Christian Kaiser

Greifen, Treten, Bewegen

Nr 139 | Juli 2011

Im Elbsandsteingebirge

Rot leuchten die Buchenblätter während der Morgen­däm­merung. Der sternenklare Himmel über dem Wald ist noch halbdunkel, ich atme die kalte klare Luft ein. Noch vor Sonnen­aufgang hatte ich mich aus meiner Kammer auf der Burg Hohnstein geschlichen, wo ich übernachtet hatte. Ich gehe den Malerweg, den ein Reh nur wenige Meter vor mir überquert. Das Tier bleibt direkt vor mir stehen, mustert mich ohne erkennbare Scheu und setzt seinen Weg ohne Hast fort. Ein Buntspecht klopft. Dann wird es wieder still im Wald. «Zieh, zieh …», ruft ganz leise die Tannenmeise, während ich meinem Ziel, dem «Brand» stetig näher komme.
Der markante Felsen, dem die schwarze Farbe zu seinem Namen verholfen haben muss, bietet eine wunderbare Aussicht weit über die Sächsische Schweiz. Die nahe gelegene «Brandbaude» ist ein altes Gasthaus mit guter sächsischer Küche. Vor fünf Jahren wurde hier eine der romantischsten Wanderrouten Deutschlands zu neuem Leben erweckt: Der Malerweg ist über 100 Kilometer lang und erfreut sich immer größerer Beliebtheit, da auch Etappen möglich sind und das Gepäck sogar von Herberge zu Herberge befördert werden kann.
Das Elbsandsteingebirge gehört zu den großartigsten Natur­landschaften in Deutschland. Es sei «das Tafelsilber der ehemaligen DDR», sagte Professor Michael Succow, der damals im Pro­zess der Wiedervereinigung Umweltminister war. Auf seine Initiative wurden 14 neue Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks unter Schutz gestellt. Nur wenige Tage später waren sie Teil des vereinigten Deutschlands. Der Nationalpark Sächsische und Böhmische Schweiz erstreckt sich von Sachsen bis nach Decin in Tschechien.

Boxen war was für die anderen

Von Bernd Arnold, dem Kletterer, hatte ich schon während meiner dritten Reise vor fünf Jahren gehört. Heute treffe ich ihn vor seinem Haus am Marktplatz von Hohnstein. «Guten Tag!» begrüßt er mich freundlich – ich grüße zurück. 1989 eröffnete Arnold mit seiner Frau den ersten eigenen Bergsportladen. Wir brechen gleich zu einem ersten Rundgang auf. Der Weg führt durch den ehemaligen Bärenzwinger der Burg zur Napoleon­schanze über den Galgenberg zu einem alten Steinbruch im Wald. «Obwohl ich in Hohnstein aufwuchs», so erzählt Arnold, «lag das Klettern mir nicht in der Wiege, vielleicht aber doch in den Genen.» Heute ist er einer der bekanntesten Kletterer Deutschlands. Während wir den Ausblick genießen, erzählt Arnold vom Beginn seiner Leidenschaft. «Schon als Kind zog mich der Felsen magisch an. Bald verabredete ich mich mit
meinen Schulkameraden, wir waren damals zehn Jahre alt, zum Klettern. Fußball spielen und Boxen war etwas für die anderen, das hatte ich schnell raus. Im Klettern war ich besser.» Nachdem seine besorgten Eltern an­fangs versucht hatten, dem jugendlichen Bernd die Kletterei zu verbieten, förderten sie ihn später sogar. Außerdem hatte er ja Heimvorteil: «An der Wand im alten Steinbruch konnte ich täglich nach der Schule barfuss am Fels trainieren.» Bis heute kommt er an diesen Ort.
Der Autodidakt Arnold hat sich beim Klettern an Felsen immer wieder neue Dimensionen erklommen. Dabei stand die Freiheit, nicht der Ruhm im Vordergrund. Es gibt kaum jemanden in der Kletterszene, der nicht zu seinen Bewunderern zählt oder gar den Namen Bernd Arnold nicht kennt. «Ich kann Ihnen morgen im Steinbruch eine kleine Einführung ins Klettern geben», sagt Arnold ganz unvermittelt. Ich bin derartig gespannt auf das verlockende Angebot, dass ich in der Nacht kaum in den Schlaf finde.

Glücksgefühle können klettern

Am nächsten Morgen geht es los. Wir ziehen die Schuhe aus und gehen barfuss auf dem Felsen umher, um die Beschaffenheit der Gesteinsoberfläche zu spüren. «Es gilt», so Arnold, «die Wahrnehmung zu schärfen. Greifen + Treten + Bewegen = Klettertechnik.» Wir hocken auf den Steinen – nicht zu nahe an der Felskante – und ich höre aufmerksam zu. Zuerst der Grundkurs. Dann der Technikkurs.
1. Übung: Abwärts eine Schräge hinuntergehen. 2. Übung: An der Wand ohne Hilfsmittel hinaufsteigen. 3. Finden der natürlichen Mulden, Ritze im Gestein, die das Klettern erleichtern. 4. Die Beine tragen beim Klettern wie beim Gehen den Körper. 5. Die Arme ziehen nicht, sie dienen nur dazu, die Balance zu halten.
6. Die Atmung soll gleichmäßig den Körper durchfließen. Störende Gedanken sollen durch Konzentration auf die Bewegung ferngehalten werden. – Mich erinnert das Ganzheitliche an Meditation und meine Erfahrung mit Qi Gong. Rasch verliere ich die Angst vor der Tiefe und einem möglichen Sturz. Runtergehen ist leicht – und schon beim dritten Mal auch das Hinaufklettern. Nun kommt der Beckengurt, die Karabinerhaken, die Acht mit dem Seil ins Spiel. Problemlos seile ich mich unter Anleitung an der Wand ab. Der Felshang, der mir anfangs noch Angst eingeflößt hat, wird schnell zur vertrauten Umgebung. Schon lange habe ich kein derart intensives Glücksgefühl mehr gehabt …

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Auf dem Rückweg sprechen wir über die Künstler der Romantik. Plötzlich fragt Bernd Arnold: «Haben Sie schon mal vom Götzinger gehört? Der war drei Jahre als Hauslehrer hier in Hohnstein, bis er eine freie Pfarrstelle fand. Er hat viel über die Gegend geschrieben.» Wilhelm Leberecht Götzinger lebte von 1758 bis 1818, er hatte einen Blick für die Schönheit dieser Umgebung. Über das damals nur wenigen bekannte Elbsandsteingebirge schrieb er zwei Bücher. Darin ist zu lesen:
«Die Künstler versicherten, dass keine Gegend sie mehr in Verlegenheit setzte als diese, indem einhundert oder zweihundert Schritte weiter eine andere und immer schönere Zusammen­stellung sich bilde.»
Maler machten sich auf den Weg, um die bis dahin als schreckliche Wildnis gefürchtete Natur selbst zu erleben und mit dem Zeichenstift abzubilden. Immer mehr Reisende begeisterten sich an der unerschöpflichen Fülle bizarrer Felsgebilde, wildromantischer Schluch­ten, erhabener Tafelberge mit ihren atemberaubenden Aussichten. Die frühesten Bilder des Elbsandsteins malte der sächsische Hofmaler Johann A. Thiele im Jahr 1726. Die felsige Landschaft erschien bereits 1766 für Adrian Zingg, einen Schweizer Künstler, derart eindrucksvoll, dass er den Begriff «Sächsische Schweiz» für sie prägte.
Und so landläufig bekannte Größen wie der Maler Caspar David Friedrich ließen sich nach einem ersten Besuch 1798 sogleich in Dresden nieder. Es ist kein Zufall, dass Friedrich gerade Dresden wählte. Die Stadt, die während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer «nach Norden vorgeschobenen Kolonie der Künste» geworden war, entwickelte sich mit Beginn des neuen Jahr­hunderts zum bedeutendsten Zentrum der deutschen Frühromantik. Die Zeitschrift Athenäum wurde zur selben Zeit in Jena von den Gebrüdern Schlegel herausgegeben, worin Friedrich Schlegel mit seinen «Fragmenten» die romantische Ästhetik begründet. Novalis veröffentlicht im Athenäum seine Frag­mente «Blüten­staub» und «Glaube und Liebe».
Friedrich ging es um mehr als den schönen Schein, ihm ging es um einen wahrhaftigen Ausdruck einer höheren als der menschlichen Existenz. Dazu versuchte er sich intensiv mit der Natur zu verbinden, er kam oft in die Sächsische Schweiz, blieb tagelang allein, um ungestört nach der Natur zeichnen zu können und im Freien zu übernachten. Als 1813 Krieg ausbrach und Napoleons Truppen Dresden besetzten, zog sich Friedrich in die Einsamkeit des Elbsandsteingebirges zurück. Jetzt erlebe und begreife und besteige ich selbst diese Landschaft. Ich muss lächeln und daran denken, dass ich das Interesse an Friedrich und seinen Bildern schon seit meiner Kindheit habe.

«Na, seid ihr auch alle da …?»

Meine Wanderung führt über die «Bastei» hinab ins tief eingeschnittene Tal der Polenz. Das klare Flüsschen glitzert zwischen den Blättern hindurch. Ein kleiner Vogel fliegt am Fluss hin und her. Er stürzt sich von einem Stein im Fluss ins rasch fließende Wasser, taucht unter und kommt nach einigen Metern wieder heraus. Es ist die seltene Wasseramsel, leicht erkennbar an ihrem Knicks, den sie fast ständig macht, wenn sie sitzt. Unablässig ist sie auf Nahrungssuche. Die Köcherfliegenlarve ist ihre vorzüglichste Beute, sie baut sich aus Steinchen und Stöckchen ein «Unter­wasserhaus» am Grund klarer Bäche. Unter Wasser bewegt sie sich schwimmend fort. Sie fliegt unter der Wasseroberfläche, denn Schwimmhäute, wie Entenvögel, hat sie nicht.
Beim Bäcker in Hohnstein fallen mir ein paar bekannte Gesichter auf. Das ist doch der Kasper aus meiner Kindheit, der mich aus der Vitrine anschaut!? Die Verkäuferin klärt mich auf: «Nuu, (das heißt auf Sächsisch «ja») die Puppen, ja original Hohnsteiner eben. Die macht doch Herr Berger oben am Sachsenberg.» Kindheits­erinnerungen – schon wieder. Doch meine Zeit im Elbsandstein geht zu Ende, der Kasper muss leider warten, bis ich wieder­komme.
Der Schaffner reißt die Tür des Abteils auf und mich aus meinen Träumen. Ich war eingenickt im Zug zurück nach Hamburg. Im Traum war ich gerade an der Polenz mit ihren knicksenden Wasseramseln, den farbig schillernden Eisvögeln, stand kurz darauf auf der höchsten Spitze des Brand und habe eine Stimme gehört, die fragte: «Na, seid ihr auch alle da …?»