Frank Berger

Liebe Leserin, lieber Leser,

Nr 142 | Oktober 2011

Lesen ist eine uralte Kulturfähigkeit des Menschen. Wenn ich Sie jeden zweiten Monat so anspreche, appelliere ich an etwas in Ihnen, das Sie zu meinen Partnern (was eigentlich «Teilhaber» bedeutet) macht. Denn weil Sie Leser, d.h. des Lesens fähig sind, sind Sie in der Lage, meine zuerst in Worte und dann in Schrift verwandelten Gedanken zu verstehen, nachdem ich Sie Ihnen «mit-teilte», also mit Ihnen teilte. Diese Partnerschaft verbindet uns, auch wenn wir uns nicht persönlich kennen.
Manchmal haben solche Partnerschaften weitreichende Folgen. Wäre Moses des Lesens nicht mächtig gewesen, hätte er die Zehn Gebote, die Gott eigenhändig mit seinem Finger (so schildert es das Buch Exodus) zwei Steintafeln eingeschrieben hatte, nicht verstehen und vermitteln können. Das Volk Israel hätte nicht daran teilhaben können, es wäre nicht zum Partner Jahwes geworden – eine un­vorstellbare Vorstellung …
Doch Lesen ist mehr als nur das Verlebendigen von Sinn aus Schrift. Die deutsche Sprache kennt auch das Lesen von Ähren, Weintrauben oder Früchten im Sinne von «ernten». Wer liest, erntet also – immer. Am reichsten wird die Ernte wohl dort ausfallen, wo der Ackerboden ein menschliches Du ist. Denn wenn ich in den Augen eines anderen Menschen seine Fragen und Ängste, seine Hoffnung und seine Zuneigung lese, nehme ich Anteil an seinem Innersten, dem, was jenseits aller intellektu­ellen Barrieren liegt. Seine Seele wird zum aufgeschlagenen Buch. Ein solches Lesen führt uns, wenn es gelingt, in Tiefen, wo wir alle Buchstaben und Worte hinter uns gelassen haben.
Lesen will uns in die Mitte der Schöpfung führen. Dorthin, wo ihr Herz schlägt. Schön, wenn wir durch a tempo immer wieder gemeinsam dorthin finden!

Aus Stuttgart sendet herzliche Grüße, Ihr

Frank Berger