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Heinrich von Kleist

Andreas Laudert

Nr 142 | Oktober 2011

Die Betrachtungen von Heinz Demisch zu Heinrich von Kleist sind ein Juwel. Demisch war Kunsthistoriker, Künstler und Feuilletonautor – dass seine Studie von 1964 zu Kleists 200. Todestag neu aufgelegt wird, ist ein Geschenk. Vielleicht erinnert man sich als Leser an Kleist als Schulstoff oder war fasziniert von Stücken wie «Der zerbrochene Krug». Aber fremd blieb er einem doch, dieser ebenso feurige wie sensible Dichter, der stets am Abgrund der Depression wandelte und 34-jährig am Berliner Wannsee freiwillig aus dem Leben schied. Welche Zukunftsgeste verbirgt dieses Schicksal?

Was hat Kleists heroisch-bittere Frage «Wer wollte auf dieser Welt glücklich sein?» mit der Welt heute zu tun und ihren Kämpfen? Die schlanke Schrift besteht aus aufeinander aufbauenden Studien zu einzelnen Motiven im Leben und Werk und ist aufgrund des bescheiden-eleganten Stils ohne große Vorkenntnisse lesbar. Geleit- und Nachwort ordnen das Buch klug in die aktuelle Kleist-Rezeption ein. Was ist nun sein besonderes Verdienst, was macht es zu einem kleinen Juwel?
Der Autor erweitert den intellektuell-wissenschaftlichen Blick­winkel und versucht, ein Bild zu geben – die spirituelle Geste der Lebensentscheidungen und Konflikte Kleists zu beschreiben. Konflikt und Umbruch gab es hier reichlich. Ein roter Faden
dieses Lebens seien «Mars-Situationen» gewesen. Der aus einer Familie mit Militärtradition stammende Dichter war einerseits selber von heftigem Temperament. Was man dem Kriegsgott Mars als kosmische Prägekraft zuschreibt – das kämpferisch-anmaßende Wesen, die Unmittelbarkeit des Handelns aus dem Moment heraus –, machte Kleist oft das Leben unnötig schwer. Sein Gemüt sei sein Schicksal, sagte er. Ihm fehlte die «jupiterhafte» Gelassenheit eines Goethe, an dessen inneren und äußeren Seins­bedingungen er hier einfühlsam gemessen wird. Aber anderer­seits schenken Marskräfte den unmittelbaren und schöpferischen Zugang zur Sprache. Kleists Verse berühren durch «das Vermögen, die Grundmelodie menschlicher Existenz … durchklingen zu lassen … Kleists Sprache … ist tief dank ihrer Verwurzelung in den Grundbereichen …»
Diese Verfeinerung Kleists führte zur Schwierigkeit, sich im Irdisch-Materiellen zu festigen. Die Zwiste, die er teils vom Zaun brach und in die er teils aufgrund der politischen Verhältnisse hineingeriet, hatten ihre Ursache in seiner Not, verstanden zu werden, in seiner Empfindsamkeit und in seinen moralischen Ansprüchen. Den Weg suchen «hieß … zugleich: ihn bahnen müssen» – auf schon gebahnten konnte sich Kleist nicht ent­falten. Er sehnte sich nach einem Wissen, nicht zuletzt von sich selbst, das nach dem Tod Bestand hätte. Demisch beleuchtet diese Biografie vor dem Hintergrund von Einweihungsmotiven. Kleist beschritt «instinktiv» einen meditativen Weg. «Oster-» und Schwellenerfahrungen waren indirekt, sie wirkten unmittelbar existenziell. Auf Kleists tragischen Tod fällt hier ein Gnadenlicht.
Wohldosiert zieht der Autor Aussagen Rudolf Steiners heran – auch zu Kleist – und macht transparent, dass Kleists Natur auf zukünftige Bewusstseins- und Seelenentwicklungen hinweist:
«Es war eine Heimatlosigkeit von innen her, die sich … aus seiner Individualität ergab. Er wollte bei allem, was er tat, dass es sich gleichsam selber trüge, ohne Stütze der Konvention und ohne wirtschaftliche Sicherungen …» Dazu gehört auch Kleists Ahnung, dass sich Männliches und Weibliches im einzelnen Menschen zunehmend annähern werden und dass es eine «moralische Schönheit» in uns gibt, die wir schauen und an der wir uns orientieren können, wenn wir an den eigenen Abgründen und Begierden verzweifeln.
Das Buch von Heinz Demisch lädt ein, sich neu mit Kleist zu befassen – mit dessen tiefer Sehnsucht nach den Lorbeeren des Glücks. Für Kleist bedeutete «Bildung», die Übereinstimmung mit dem eigenen Urbild zu erlangen und dessen gewiss zu sein, dass das wahre Leben jenseits des Todes nicht endet. Es mag kein Zufall sein, dass dieser tiefe Blick auf den Dichter von einem Autor getan wurde, dessen Vita selber «Mars-Situationen» bestanden hat. Heinz Demisch wurde im Oktober 1913 in Königsberg geboren und starb im November 2000.