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Richard Scrimger

Nr 142 | Oktober 2011

Ein Autor in verschiedenen Welten

Nicht wenige Schriftsteller haben Hobbys, mit denen sie sich von der Arbeit ablenken oder die ihnen als Inspirationsquelle dienen. Ernest Hemingway etwa ging auf die Jagd oder hat sich geprügelt, Vladimir Nabokov liebte Schmetterlinge und von Jonathan Franzen wird gesagt, er gehe nie ohne sein Fernglas aus dem Haus, da er jede Gelegenheit nutze, Vögel zu beobachten. In allen drei Fällen ist es offensichtlich, dass diese Freizeitbeschäftigungen Einlass in ihr Werk gefunden haben.
Wenn Richard Scrimger gerade nicht an einem Roman arbeitet, sitzt er in der Regel ? an seinem Schreibtisch. Natürlich nicht ausschließlich, doch er genießt es, seinen Lesern über seinen Blog mitzuteilen, was er im Alltag erlebt und worüber er sich Gedanken macht. Abgesehen davon, dass es für seine Leserinnen und Leser natürlich interessant ist, auf diese Weise mehr über ihn zu erfahren und mit ihm in Kontakt zu kommen, profitiert Scrimger selbst davon. Und auch wenn sein schlechtes Gewissen ihn dazu geführt hat, seinen Blog mit der Information: «Richard Scrimger sollte wahrscheinlich gerade etwas anderes schreiben» zu betiteln, sind die kleinen familiären Begebenheiten oder Protokolle von Straßen­gesprächen, die er durch sein Bürofenster aufschnappt und wiedergibt, für ihn angenehme Fingerübungen und eine Methode, frischen Eindrücken eine erste Form zu geben.
Diese unmittelbare Lebendigkeit ist auch in seinen Büchern zu spüren. Nie hat man den Eindruck, die Inhalte seiner Romane seien am Reißbrett entstanden. Vielmehr überrascht er seine Leser immer wieder damit, dass man meinen könnte, nichts von dem, worüber er schreibt, sei nicht selbst erlebt.
Das erstaunt umso mehr, als die Hauptperson seines neuen Jugend­buches ein Junge ist, der nach einem Unfall in eine Art Zwischen­welt gerät, in der er weder tot noch lebendig ist. Er wird mit entsetzlichen Gestalten konfrontiert, die ihm so sehr zu Leibe rücken, dass er sich wünscht, so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Bei all der Fantastik seiner Untoten – ein Thema übrigens, das in vielen seiner Bücher auftaucht – wirken seine Figuren und ihre Erlebnisse so greifbar, als hätte Scrimger selbst einmal Gelegenheit gehabt, sich im Reich der Toten auf­zuhalten.
Überhaupt spielt die Auseinandersetzung mit dem Tod eine auf­fallende Rolle in seinen Romanen; nach seinem letzten Buch kündigte er bereits an, er plane «eine humoristische Geschichte über den Tod». Und man kann sagen, dass er sein Wort gehalten hat: In KOMA trifft er nicht nur hervorragend die Sprache der Jugend­lichen, er scheut auch nicht davor zurück, die eigentlich als problematisch geltenden Themen Gewalt und Tod anzugehen. Und das eingebettet in eine Handlung, die weder verharmlosend noch allzu erschreckend zu lesen ist. Lebendig eben und voller Humor, bei dem einem allerdings auch hier und da das Lachen im Hals stecken bleiben kann.
Aber noch einmal zu seinem Blog. Für das Motto, er solle «wahrscheinlich gerade etwas anderes schreiben» gibt es noch eine zweite Lesart: In Deutschland ist Richard Scrimger bisher aus­schließlich als Autor von Kinder- und Jugendbüchern bekannt, doch sein Werk umfasst auch Sachbücher und einen Roman, in dem eine demenzkranke Frau auf ihr ereignisreiches Leben zurückblickt. Und auch in diesem Buch gelingt es ihm, das Leben «in der schönsten aller Welten» gleichzeitig ergreifend und fröhlich dar­zustellen. Man darf sich also auf weitere Romane des 55-jährigen Kanadiers freuen.

Von Michael Stehle