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Geschlossene und offene Türen

Maria A. Kafitz

Nr 145 | Januar 2012

Das Zimmer war leicht verdunkelt, ungeordnet lagen überwiegend schwarze Kleiderberge, Schulhefte und allerlei andere Dinge umher. Die noch wenige Jahre zuvor akribisch nach Farben sortierten Stifte formten zusammen mit Notizzetteln und zerknüllten Briefen einen chaotischen Haufen auf dem Schreibtisch und der Telefonfonhörer schien ein neu hinzugekommenes Körperteil geworden zu sein … Willkommen im Reich der pubertären Hochzeit, willkommen im Land der tausend quälenden Fragen.
In diese existenzielle «Idylle» einzudringen, war nicht leicht – für einige gar unmöglich. Anderen gelang es in Form von Büchern. So auch dem am 21. Juni 1905 in Paris geborenen und dort am 15. April 1980 verstorbenen Philosophen und Schriftsteller Jean-Paul Sartre mit einem Text, der allein wegen des Titels ge­kauft wurde: Huis Clos – Die geschlossene Gesellschaft.
Der 1944 in Paris uraufgeführte Einakter traf mitten ins Herz, mitten ins Zentrum der bohrenden Fragen: Warum und wer bin ich – wohin gehe ich – was bleibt von mir, von allem?
Die drei Protagonisten, Inés, Estelle und Garcin, begegnen ein­ander nach ihrem Tod zum ersten Mal, und nach diesem ersten Mal scheint es für immer zu sein. Der geschlossene Raum, die immer erleuchtete und schlaflose Hölle, ist ihr Heute und Morgen, ihr Übermorgen – ihre Ewigkeit. Wie aber be­gegnet man einander, wenn die Gewissheit reift, dass eine Flucht unmöglich ist? Was offenbart man den immer anwesenden Fremden? Das eigene Wunschbild – die schmerzhafte Wahrheit?
Zu Beginn retten sich die Drei durch die Beobachtung des eigenen vergangenen Lebens, durch das Beobachten ihrer zurück­gelassenen Welt und ihrer Hinterbliebenen. Doch das Leben auf der Erde geht weiter – sie geraten immer mehr in Vergessenheit. Damit trübt sich auch ihr Blick auf die Erde, weil es nichts mehr gibt, was mit ihnen in Verbindung zu stehen scheint.
Gehen wir verloren, wenn niemand mehr da ist, der an uns denkt, sich unserer erinnert?
Tastend versuchen Garcin, Estelle und Inés voneinander den Grund für ihren Aufenthalt in der Hölle zu erfahren, ohne jedoch ihre eigene Schuld zu offenbaren. Bei den Versuchen ihr wahres Wesen, aber auch ihre wirklichen Anliegen zu ver­tuschen, verfangen sie sich im Netz der eigenen Illusionen, in dessen Mitte die Abhängigkeit von der Anerkennung der anderen thront.
«Wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von anderen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle. Und es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen.»
Was Sartre im Vorwort seines Stückes formulierte, begleitet viele als eine der Grundfragen das ganze Leben lang: Was entscheide und will ich selbst …?
Wenn wir über uns nachdenken, wenn wir versuchen, uns zu erkennen, benutzen wir Kenntnisse, die andere schon über uns haben. Wir beurteilen uns mit Mitteln, die andere uns zu unserer Beurteilung gegeben haben – ihr Urteil spielt in unser eigenes hinein. Im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Anforderung, Eigensinn und Hingabe bildet sich jener Moment, jene Qualität aus, die uns bewusst macht, dass wir «zur Freiheit verurteilt» sind, wie es Sartre formulierte.
In seiner Geschlossenen Gesellschaft gelingt es den Protagonisten nicht, den eigenen freien Willen über (oder wenigstens neben) das Urteil der anderen zu stellen. Die Tür aus der Hölle steht ihnen am Ende offen – allein den Schritt hinaus wagen sie nicht.
Auch die Tür zu einem anderen Zimmer steht offen, es ist heller geworden, die nun komplett schwarze Kleidung hat (meist) den Weg zurück in den Schrank gefunden und die farbliche «Ordnungswut» wurde weit über die Stiftreihen ausgedehnt. Zahlreiche Bücher haben im Lauf der Zeit Zutritt erhalten, doch kaum eines wurde so oft und immer wieder hinterfragend gelesen (oder im Theater gesehen) wie jenes aus den Tagen im existenziellen Idyll.