Christian Kaiser

Wenn Wasserriesen die Welle reiten

Nr 145 | Januar 2012

Der Lotse
Das Lotsenboot rauscht mit voller Fahrt dem großen Containerschiff Al Bahia entgegen. Der schwarze Rumpf der Riesin ragt im Dunst mit gut 300 Metern Länge über dem Wasser auf. Die weiße Brücke ist doppelt haushoch. Das Bild könnte eine Hommage an Fellinis Schiff der Träume sein.
Das kleine Lotsenboot dreht bei. Eine Leiter wird an der
Schiffswand heruntergelassen. Die beiden so unterschiedlichen Boote fahren jetzt in einer Geschwindigkeit, kommen sich näher, bis sich die Schiffsrümpfe aneinanderschmiegen. Wasser spritzt hoch. «Gute Reise», ruft der Bootsmann, und Lotse Kolb macht einen Satz, um sich behände an der spartanischen Leiter die Bordwand hinaufzuarbeiten. Im Rachen der stählernen Schiffshaut verschwindet er.
Werner Kolb ist 56 Jahre alt, als Sportler fit und schlank geblieben wie ein Jüngling. Zwei Seeleute nehmen ihn in Empfang: «Welcome on board, Mr. Pilot. »Wir sind unterwegs auf der Unterelbe.

Revierfahrt
Brunsbüttel ist einVerkehrsknotenpunkt für Schiffe. Hier mündet der Nordostseekanal in die Elbe, und Schiffe, die aus Nord- oder Ostsee rein und raus oder nach Hamburg unterwegs sind, begegnen sich zu jeder Stunde. Der Offiziersanwärter geleitet uns durch ein Labyrinth aus Gängen, die von Neonlicht nur spärlich erhellt sind. Schnell geht die Orientierung im verwinkelten Inneren des Schiffes verloren. Während des Hinaufkletterns außenbords lässt einem die Gefahr das Herz schneller schlagen. Hier, im fremden Innern des riesig großen Schiffs, wird alles vom Takt der Maschine bestimmt, die Enge in einem kleinen Aufzug, der auch drei schmale Körper eng beieinanderstehen lässt, steigert die innere Aufregung noch. Mir verschlägt es den Atem. Acht Fahrstuhlebenen höher und über eine steile Treppe geht es noch höher hinauf auf die Brücke. Der Kapitän erwartet gemeinsam mit seinen Schiffsoffizieren den Lotsen und übergibt ihm nach kurzer freundlicher Begrüßung dieVerantwortung für die Navigation. Die 180-Grad-Aussicht hier oben hoch über dem Wasser ist großartig. Auf der Brücke steht eine Tür zum Oberdeck offen – erstmal tief durchatmen. Die gestapelten Container versperren die Sicht nach vorne, erst in der Ferne kann das Geschehen auf dem Wasser genau beobachtet werden.
«Unsere Reise wird vier Stunden stromaufwärts nach Hamburg
führen», sagt Kolb. «Die Revierfahrt, die Fahrt auf Flüssen, so sagen wir Nautiker, bedarf jahrelanger Erfahrung.»
Hoch oben über dem Brackwasser der Elbe scheint mir dieWelt
einen Moment lang fast grenzenlos. Doch Lotse Kolb hat ein
anderes Gefühl, denn er trägt von jetzt an gemeinsam mit dem Kapitän die Verantwortung für das Schiff. Die Flut hat gerade eingesetzt, wir laufen mit der Tide. Kolb ergänzt im Seemannsjargon: «Das Schiff reitet jetzt auf der Flutwelle bis nach Hamburg, so haben wir während der ganzen Fahrt genügend Wasser unterm Bauch.

Lehrjahre und Lotsenpflicht
Kolb erzählt: «Ich habe den Beruf von der Pike auf gelernt, mit 17 Jahren habe ich als Schiffsjunge an Bord eines Kümos (kleines Küstenmotorschiff) angefangen. Dann Seemannsschule und Lehrjahre bei Hapag Loyd. Nach bestandener Prüfung zum Schiffsoffizier, Kapitän auf großer Fahrt, habe ich bei der Horn Linie als Nautiker angefangen. Ich habe nach zehn Jahren Fahrenszeit als Kapitän die Ausbildung zum Lotsen begonnen, seit zwanzig Jahren bin ich jetzt Lotse.»
Die Fahrrinne der Elbe beginnt in der Nordsee kurz vor Helgoland.
Von dort ist die Elbe eine Bundeswasserstraße, der Kapitän jedes Schiffes über 90 Meter Länge ist verpflichtet, einen Lotsen an Bord zu nehmen. Dieser hat die Aufgabe, das ihm anvertraute Schiff samt Ladung sicher nach Hamburg zu lotsen. Im Hamburger Hafen wird er vom Hafenlotsen abgelöst, der bringt das Schiff sicher bis an den Kai.

Die Brücke
Auf der geräumigen Brücke, dem Arbeitsplatz für die Schiffsführung, «nautische Besatzung» genannt, wirft Werner Kolb einen Blick aufs Radar, der Kapitän hatte ihm das Schiff mit «10 knots boardingspeed», 10 Knoten Fahrt, übergeben. «Full ahead», so lautet Kolbs erstes Kommando: «volle Fahrt voraus» – später wird die Fahrt zwangsläufig langsamer. Die Elbe unter uns ist hier zwei Kilometer breit, aber die Fahrrinne hat nur 250 bis 300 Meter Breite. Für zwei Schiffe von über 300 Metern Länge und mehr als 40 Metern Breite, die sich entgegenkommen, bleibt gerade genug Platz zum Ausweichen. Neue Schiffe sind 400 Meter lang und 55 Meter breit – mehr geht jedoch nicht auf der Elbe, denn die Schiffe müssen vor ihrer Rückfahrt gewendet werden. Was für den Laien, der staunend am Ufer steht, nach Weite aussieht, ist aus Sicht der Nautiker fast ein Nadelöhr. «Überholen ist wegen der Sogwirkung immer ein Risiko», sagt Kolb und gibt dem Offizier, der das Schiff nach seinen Angaben steuern lässt, genaue Kurs- und Geschwindigkeitsvorgaben.

Die Maschine
Ich lasse mich vom «dritten Ing» hinunterführen, hier arbeiten drei Maschinisten, besser gesagt schiffsingenieure an ihrem Leitstand mit hunderten Kontroll- und Messgeräten. 100 000 PS erzeugt die von Hyundai gebaute Maschine, das entspricht der Leistung eines
Kraftwerks.
Die Generatoren zur bordeigenen Stromerzeugung haben bereits die Größe eines Lastwagens. Überall herrscht ohrenbetäubender Lärm, der von den Wänden des Schiffsbauches widerhallt. Gut, dass ich Ohrenstöpsel vom «Chief», dem 1. Ingenieur, bekommen habe. Der Maschinenraum der Hauptmaschine entfaltet seine sakrale
Wirkung – trotz fehlender Stille: drei Stockwerke tief und lang wie ein Häuserblock dehnt er sich aus. Ein Matrose wischt am Fuß der Hilfsmaschine den beige gemalten Boden aus Stahl. Ich muss an Gullivers Reisen denken, weil hier die Größenverhältnisse auch auf dem Kopf zu stehen scheinen.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Auf Kurs
«Kurs one-six-six», lautet Kolbs Kommando. Das große Schiff bewegt sich wie in Zeitlupe ganz leicht nach rechts,der Bug des Schiffes richtet sich 200Meter vom Steuermann entfernt nach der geschwungenen Fahrrinne des Flusses aus. Die Bewegungen der Schiffe scheinen aus einer anderen, einer früheren Zeit zu stammen. Vielleicht unterschätzen Landratten, zu denen ich ja gehöre, aber auch nur die Geschwindigkeit auf dem trügerisch ruhig anmutenden Wasser. Werner Kolb erklärt hierzu: «Bremsen kann auch ich das Schiff nicht, nur Fahrt wegnehmen, das bedeutet, dass das Schiff erst nach fünf Kilometern zum Stehen kommen würde.» Vorausschauend navigieren und gegebenenfalls ausweichen – mehr tun kann weder Kapitän noch Lotse.
An Backbord kommt die Elbfähre Ernst Sturm aus Glückstadt «angebraust», sie ist mit Autos und Lastwagen beladen. Auf Steuerbord nähert sich die Fähre aus Wischhafen, der entgegengesetzten Richtung. Wie die Zähne eines Reißverschlusses gleitet derVerkehr im Fahrwasser ineinander. Am Horizont nähern sich weitere Schiffe. Kolb wirft einen Blick nach achtern: «Alles klar», meint er, «keiner auf der Überholspur.» Hinter dem Schiff kräuselt sich nur das Schraubenwasser – es ist goldbraun und verliert sich zu einer dünnen, weißen, schäumenden Spur auf dem Grau der Wasseroberfläche. Ein paar Wellen rollen an den Deichfuß und prallen von da zurück aufsWasser
wie Kugeln beim Billiard an der Bande.
«Schiff mit Kurs Hamburg voraus», ertönt es. Doch das kleine Küstenmotorschiff ist viel langsamer als die Al Bahia mit ihrem bordeigenen Kraftwerk; so ziehen wir auf der Überholspur an der Greta vorbei.Während das Fährschiff hinter uns immer kleiner wird, erzählt Kolb: «In den Schulferien besuchte ich gerne meine Großmutter im Kehdinger Land, da drüben zwischen Cuxhaven und Stade, sie wohnte direkt dort am Deich.Vom Balkon konnte ich fast in die Elbe spucken. Sie lag direkt vor dem Fenster. Meine Tante betrieb auf der Fähre Glückstadt-Wischhafen ihren Kiosk, da konnte ich den ganzen Tag mitfahren,wenn ich wollte.» Das war das großeAbenteuer für Werner, den Jungen aus Frankfurt am Main.

Dem Ziel entgegen
Auf der Brücke wird es stiller, die Anspannung weicht sicherer Routine. Die Abendstille legt sich über den Strom und langsam auch auf die Gemüter. Andächtig schauen die fremden Seeleute in die Ferne. Der Lotse hat seine Sinne ganz auf die Navigation konzentriert, damit er das Schiff sicher durch das enge Fahrwasser nach Hamburg bringen kann. Die Schiffsbesatzung auf der Brücke wirkt, als sei jeder von ihnen in seine eigenen Gedanken versunken.Was wird der nächste Hafen für sie bedeuten? In Hamburg werden die meisten Nachrichten ihrer Lieben aus der meist fernen Heimat empfangen.
Die Sonne neigt sich hinter dem Schiff bis auf den Horizont, rechts hinter dem Matrosen am Steuer kniet sich der zweite Offizier zum Abendgebet auf seinem Teppich nieder. Während wir die lange bewaldete Insel Rhinplatte passieren, betet der Mann gen Mekka.
An Steuerbord ziehen Nonnengänse über Krautsand. Hinterm Deich ragen Industrieanlagen in der flachen weiten Landschaft auf.
Die großartige Stromlandschaft breitet ihr Panorama aus.Bützfleth, das Industriegebiet Stader Sand, kommt in Sicht.Rote Bauxiterde wird hier zu Aluminium verhüttet. Davor liegt das abgeschaltete Atomkraftwerk, der Rückbau des Reaktors ist längst beschlossen.
«Midship!», ruft Kolb dem Offizier zu. Der gibt es an den Mann am Ruder weiter. Der Rudergänger wiederholt das Kommando: «Midship!», den Kurs geradeaus halten. Die Al Bahia macht noch immer ganz ordentlich Fahrt.
«Reduce speed», sagt Kolb dem Schiffsoffizier. Die länglichen Inseln im Strom müssen umfahren werden. Hier nennt man sie «Sände», in Erinnerung an die Zeit, als sie noch Sandbänke waren.
In den vergangenen hundert Jahren hat man die meisten dieser Sände mit dem Baggergut aus der Fahrrinne zu Inseln aufgespült. Heute stehen sie mit ihren wertvollen Wattgebieten unter Naturschutz.
Bevor der Pagensand erreicht ist,muss die Al Bahia mit gedrosselter Fahrt an den vertäuten Schiffen vorüberfahren. «Würden wir mit höherer Geschwindigkeit an diesen Schiffen vorbeifahren, könnten durch die Sogwirkung, die unser Schiff entwickelt, deren Trossen zerrissen werden.Taue und Ketten können diesem Sog nicht Stand halten.Ein umhertreibendes Schiff wäre eine ernste Gefahr für den Verkehr auf der Elbe.»
Die Dämmerung setzt ein, sie zaubert sämtliche Rottöne an den nordischen Himmel und löscht sie wieder.Dunstschleier legen sich über den Elbstrom. Die Schatten sind verschwunden.Die Landschaft weicht optisch auf und verschwimmt zu einem wattierten Raum. In der Ferne gehen die Lichter am Horizont und auf den Schiffen an.
Festlich geschmückt zeigt sich die Elbe mit ihrer stolzen Schwester, der Hansestadt Hamburg, am Abend. Zwei Leuchtfeuer am Elbufer nutzt der Lotse zur Peilung. Aus dem UKW-Funkgerät plärren knarzig die Funksprüche aus der Lotsenstation für die anderen Schiffe,manchmal ist auch die Al Bahia zu hören.
Auf dem Radarschirm werden Ufer, Schiffe, sogar Umrisse der Stadt und die Tonnen, die das Fahrwasser markieren, gelb auf schwarzem Hintergrund abgebildet. Die Kontrolllampen auf der Brücke verschmelzen mit den Lichtern der Großstadt Hamburg.
Die Reise ist bald zu Ende, ein kurzer Blick auf St. Pauli muss sein: «Da drüben am Ufer, an der Großen Elbstraße, stank es immer nach Fisch, es tummelten sich die Bordsteinschwalben.» Doch jetzt wird die einst schmuddelige Waterside ganz schick gemacht. Der Captain sagt «Bye, bye, Mr. Pilot» zu Kolb. Der antwortet: «Bye, bye, Mr.Captain.» Dann klettert er über die Lotsenleiter runter, springt aufs winzig wirkende Boot, das ihn von Teufelsbrück abholen kommt. Ein paar Formalitäten auf der Lotsenstation sind noch rasch zu klären. Als Nautiker sind sie gewohnt, in aller Klarheit, ohne Schnörkel und überflüssige Formalitäten zu arbeiten.Und ab geht’s nach Hause und nach kurzer Nacht wieder an Bord eines anderen Schiffes von einem fremden Kontinent. Jetzt heißt es aber erstmal Tschüss!