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Rosemary Sutcliff

Morgenwind - Owins Weg in die Freiheit

Nr 147 | März 2012

gelesen von Simone Lambert

Eine wunderbar erzählte Verflechtung von persönlichem Schicksal und historischem Wandel, von Realismus und gefühlvoller Reflexion.

Die Autorin beginnt ihren historischen Roman mit dem Ende. Mit dem Ende der Schlacht von Aquae Sulis, die die Vorherrschaft der einfallenden Sachsen besiegelt. Die Römer haben ihre Provinz Britannien längst aufgegeben und die Nachfahren ihrer Legionäre können den barbarischen Horden nicht standhalten.
Die Handlung setzt ein, als der vierzehnjährige Owin aus seiner Ohnmacht erwacht. Der Kampf ist verloren; im Mondlicht entdeckt der Verwundete seinen Vater und seinen Bruder unter den Gefallenen. Owin erkennt, dass hier seine Welt untergegangen ist.

Nur einer der Kriegshunde scheint mit ihm überlebt zu haben; er wird fortan zu seinem treuen Begleiter.
Mit dieser Eingangsszene hat Sutcliff nicht nur eine für sie typische erzählerische Ausgangsposition geschaffen, sondern auch gezeigt, wie sie sich der Geschichte nähert: statt spannende Kampfszenen zu inszenieren beschreibt sie die konkreten, sinnlichen Erfahrungen eines Jungen, der (fast) genauso ist wie wir. In diesem Abenteuerroman wird zwar Blut vergossen, doch sind Owins innere Kämpfe ungleich dramatischer. Owin wird immer wieder aus Loyalität und Treue gegenüber Anderen seine eigenen Ziele
zurückstellen, sie aber nicht aus den Augen verlieren.

Nachdem Bauern ihn gesund gepflegt haben, begegnet Owin dem Bettelmädchen Regina. Als sie krank wird, lässt er sich für ihre Pflege versklaven. Elf Jahre wird er nicht wissen, ob Regina überlebt hat. Owin erwirbt sich die Achtung und Freundschaft seines Besitzers, der ihm schließlich die Freiheit schenkt. Er kämpft sogar mit ihm im Heer der Sachsen um König Aethelbert von Kent gegen den König von Wessex, der den Tod seiner Angehörigen verschuldete. Dann, als sein Hals längst vom Sklavenring befreit ist, folgt er dem Versprechen, das er dem sterbenden Beornwulf gab, und sorgt für Hof und Familie, bis er die Verantwortung an dessen Sohn Bryni übergeben kann. Aethelbert geht zwar als Sieger aus den Machtkämpfen unter den Sachsenkönigen hervor, wird sich aber mit dem Papst verbünden, um seine Herrschaft zu stabilisieren und heidnische Sachsen und christliche Britannier zu einen. Owin sieht Augustinus von Canterbury 597 mit 40 Mönchen das Land betreten, um es zu christianisieren. Kalt und herrisch folgt der seiner fanatischen Mission, ohne zu inspirieren. Rosemary Sutcliff erklärt diese Annäherung realistisch als Produkt der Staatskunst, die dennoch auch einen christlichen Morgenwind wehen lässt. Es macht die Größe ihrer Romane aus,dass sie nicht vor dem Hintergrund einer historischen Folie ablaufen, sondern dass ihre Figuren mitten in Konflikten und Veränderungen stehen, die sich im Rückblick als geschichtliche Zäsuren herausstellen.

Morgenwind weht aber auch in der Gestalt Owins durch den gesamten Roman, der als Mensch Opfer bringt, ohne seine Würde zu verlieren, und der die kulturtragenden Bräuche und die soziale und politische Organisation der Sachsen respektiert und Loyalität auch denen gegenüber zeigt, die als seine Feinde gelten. Und der nach elf Jahren in den Ruinen Viroconiums Regina wiedertrifft, weil keiner von beiden von ihrem wortlosen Bündnis gelassen hat.

An dieser wunderbar erzählten Verflechtung von persönlichem Schicksal und historischem Wandel, von Realismus und gefühlvoller Reflexion habe ich mein Sutcliff-Erlebnis gehabt.