Albert Vinzens im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Spielen ist mehr!

Nr 153 | September 2012

Wenn man Berichte über Bildungspläne, mehrsprachige Kindergärten und Fähigkeiten, die Kinder für die Zukunft brauchen, liest, müsste man im Grunde staunen: Wie klappte das eigentlich früher, als wir aufwuchsen? Haben wir überhaupt genug gelernt? Wir verbrachten viel mehr Zeit zu Hause als Kinder heute, oft spielend mit den Nachbarkindern auf der Straße. So war es auch bei Albert Vinzens, der am Rande eines kleinen Städtchens in den Schweizer Bergen aufwuchs, jetzt Dozent an einem Erzieherinstitut in Kassel und Herausgeber des Buches «Lasst die Kinder spielen» ist. Nicht selten haben Kinder inzwischen aufgrund von Kindergarten, Schule und Zusatzförderung einen 8-Stunden-Tag außer Haus. Bleibt da überhaupt noch Zeit, um zu spielen – diese Art des freien Spiels, das sich aus dem Augenblick ergibt? Und warum denn überhaupt noch spielen? Es geht doch ums Lernen, rechtzeitig und viel, denn die Arbeits- und Lebensbedingungen haben sich geändert, die Anforderungen sind gestiegen! Ja, aber es geht auch darum, wie wir als Menschen leben wollen. Spielen ist Lebensfreude und Lebenserfahrung auf ganz eigene, individuelle Art. Spielen ist Bewegung und bringt uns in Bewegung (auch im Denken). Genau das können wir von den kleinen Kindern lernen, den «Spielgenies», wie Albert Vinzens sagt.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Vinzens, warum spielen kleine Kinder eigentlich?
Albert Vinzens | Das ist etwas ganz Natürliches, eine dem kleinen Kind mitgegebene Fähigkeit, wenn es Zeit und Raum hat, sein Spiel zu entwickeln. Spielerisch üben kleine Kinder ihr Mensch­sein, ganz unverkrampft, ganz dem Moment hingegeben. Wie viel üben sie, bis sie laufen können, doch für sie ist es nicht Üben, es ist Spiel! Was für wunderbare Momente, wenn wir einem kleinen Kind unauffällig bei seinem Spiel zuschauen: Es betätigt sich scheinbar ohne erkennbares Ziel, immer wieder neu beginnend. Das ist wie «Leben lernen», denn so entwickeln Kinder Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, die durch Wiederholung, durch üben so geschmeidig werden, dass etwas dann wie von selbst geht.

DKM | Erwachsene erleben diesen selbstvergessenen Spiel-Zustand manchmal auch. Man sagt, wenn es im Fußball gut läuft: «Jetzt sind wir ins Spiel gekommen.» Da ist Spielfreude spürbar, eines ergibt sich aus dem anderen und steckt sogar die Zuschauer an.
AV | Ja, das passiert zum Glück immer wieder. Aber durch den harten Wettbewerb wird das Spiel korrumpiert, denn man kämpft dann, um zu gewinnen, verbeißt sich im Wettkampf. Die Frage ist immer: Wo ist ein Spiel echt? Kleine Kinder sind fast immer echt, weil es ihnen nur um das Spiel geht, und sie dabei alles andere vergessen können. Spiel ist echt, wenn man innerlich so nah am Wünschen ist, dass man mit dem Wünschen vollkommen zufrieden ist. Im Kindergarten spielen Kinder oft «und jetzt wär ich dies und jetzt wär ich das» – manchmal geht das in blitzschnellem Wechsel. Da reicht die Vorstellung, dass eine Ecke auf dem Spielplatz eine Lok oder ein Flugzeug ist oder ein Hocker in der Küche ist der Herd. Solche Erfahrungen haben wir als Kind alle gemacht. Daran sollten wir uns erinnern. Dann geben wir den Kindern Raum und Zeit zum freien Spiel. Aber auch in unserem eigenem Leben können wir spielerische Möglichkeiten wahr­nehmen und ausbauen.

DKM | Das Leben von uns Erwachsenen ist oft mit vielen Pflichten und Arbeiten gefüllt, Freizeit ist kostbar. Wo soll da ein spielerisches Moment Platz haben?
AV | Es gibt immer wieder Gelegenheit, dass ich spielerisch, das heißt, frei vom Erfolgs- und Durchsetzungszwang, mit echten Lebens­situationen umgehe. Schenken Sie jemandem beim Auto­fahren die Vorfahrt, das macht Laune. Einfach etwas tun, woran ich Freude habe, um diese Hingabe an den Moment, diese Freiheit des Spiels zu erleben. Ich werde immer wieder von Lebensfreude er­griffen, wenn ich Kinder draußen spielen und schreien höre. Aber auch wo es scheinbar schwierig wird, steckt Spiel dahinter: Die Pubertät gilt heute als anstrengend für Eltern und Umwelt, denn Jugendliche sind oft laut, treten am liebsten in Gruppen auf, agieren körperbetont. Da frotzeln beispielsweise zwei in der Straßenbahn herum, schubsen sich, rempeln beim Aussteigen. Ich habe mir angewöhnt so hinzuschauen, dass ich Freude daran habe. Die prügeln sich doch nicht blutig, sondern es ist meist ein Herumtollen, ein Ausprobieren ihrer Kräfte, eine Gaudi. Was ist denn so schlimm daran? Diese Kraft, diese Lebendigkeit ist doch schön!

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Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Ja, stimmt eigentlich. Und es wäre seltsam, wenn Jugend­liche, die erst ihren Platz in der Welt finden müssen, sich immer wie gesittete Erwachsene verhielten. Aber manche Szene löst auch Ängste aus vor der Kraft und möglichen Gewaltbereitschaft der Jugendlichen. Wir alle kennen die Berichte aus den Medien.
AV | Ja, da gibt es Auswüchse. Vor allem wenn Alkohol getrunken wird, ist das freie, spielerische Element nicht mehr da. Doch wenn wir uns an unsere eigene Jugend erinnern, können wir Unter­scheidungsvermögen für solche Phänomene entwickeln: Wo ist es gefährlich? Wo muss ich ausweichen? Wo kann ich einen passenden Spruch platzieren und die Situation entstauen? Jugendliche leben oft zwischen Willensstau und Träumen über das, was sie sein wollen. Spiel bringt Beweglichkeit zwischen diese zwei Pole.

DKM | Spiel ist also nicht nur friedlich und locker?
AV | Ein gewisses Risiko gehört zum Mensch-Sein dazu, es kann Ansporn sein, sich auszuprobieren, zumal man durch Fehler und Wiederholen am besten lernt. Dagegen ist das viele Reden und Erklären von uns Erwachsenen eher eine Einmischung, die sogar das Spiel zerstören oder die Freude daran verderben kann. Wir Erwachsenen sollten lieber ganz bei uns selbst bleiben, bei dem, was wir tun und dadurch quasi «vor-ahmen», was Kinder dann aus ihrem inneren Erleben heraus nachvollziehen wollen, eben «nachahmen». Ich selbst bin zum Beispiel bis heute vom Feuer fasziniert und überlege mir genau, wann die richtige Tagesstimmung dafür ist, wo der richtige Ort, um ein Feuer mit Kindern oder Jugendlichen zu machen. Dafür lohnt sich ein Ausflug ins stadtnahe Erholungs­gebiet, wo es Feuerstellen gibt. Dann suche ich das Holz, wähle sorgfältig aus, beginne zu schichten. Das ist für mich eine intensive Existenzerfahrung, dieser ganze Prozess bis hin zum lodernden Feuer. Und ich habe überhaupt keine Lust dazu, dabei viel zu erzählen – denn dann wären diese Momente für mich zerstört. Und nicht nur für mich, fürchte ich. Diese Ernsthaftigkeit und Intensität bekommen Kinder mit, wenn ein Erwachsener ganz bei der Sache ist, sei es beim Kochen oder sonst bei einer Arbeit – und das ahmen Kinder dann spielerisch nach. In solchen Momenten kann so etwas wie ein Funke auf das Kind überspringen, der lebenslang weiterglimmt.

DKM | Kinder lernen demnach durch Ausprobieren, Fehler machen. Das Tun ist wesentlich. Wie sind Sie aufgewachsen? Wie haben Sie gespielt?
AV | Ich bin sehr ländlich aufgewachsen. Das schönste Spielen war draußen, oft abends bis zum Dunkelwerden, wo bis zu zwanzig Kinder aus der Umgebung zusammen waren und man sich in zwei Gruppen aufgeteilt hat – Cowboys und Indianer. Es gab Anführer und eine bestimmte Rangfolge; im Grund haben wir alles direkt gespielt, was viele Jugendliche heute auf der Spielkonsole oder im Internet tun: über Mauern klettern, sich anschleichen, angreifen, sich verteidigen, verstecken usw. Man vergaß, dass man nach Hause sollte, vergaß manchmal, dass man Hunger hatte, die Kleider
wurden dabei dreckig. Das ist meine Erinnerung an Glück: so viel Zeit zu haben für die wirklich wichtigen Dinge. Und dann das Erfahren von Raum, von echtem, freiem Raum – in einen Baum zu klettern, die Größe des Himmels über mir zu spüren.

DKM | Das Gefühl «mir gehört die Welt!» ist sicher ein intensives Kindheitserlebnis!
AV | Ja, dieses Gefühl, ich bin Mensch, so wie ich bin, ohne dass jemand etwas von mir will, was ich nicht kann. Und die anderen Kinder sind ähnlich wie ich, sind auch alle kleine Spielgenies. Deshalb sind Kinder für uns Erwachsene große Vorbilder! Diese Einsicht ist heute leider oft dadurch getrübt, dass Eltern so viele andere Erwartungen an Kinder haben: Alles muss sauber sein, vor allem müssen Kinder ruhig sein, also nicht laut spielen, sie sollen einfach nicht auffallen und zudem sehr früh ökonomisch mit ihrer Zeit umgehen, weil nach Kinder­garten oder Schule noch andere Termine anstehen. Sie sollen wie kleine Erwachsene sein.

DKM | Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, deshalb versuchen sie, ihre Kinder in wichtigen Dingen zu fördern; die Kinder sollen möglichst viel lernen.
AV | Kinder sollen möglichst viel spielen, dann lernen sie am allermeisten! Inzwischen weiß man aufgrund wissenschaftlicher Ergebnisse aus der Neurobiologie, dass Kinder mehr lernen, wenn sie spielen. Spiel fördert Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, je nachdem, wo das Kind in seiner Entwicklung gerade steht. Zu diesem Prozess gehören Zeit und Ruhe, auch um den eigenen Rhythmus zu finden. Deshalb ist es unsinnig, was heute durch umfangreiche und detaillierte Bildungspläne für Schulen, teilweise schon für Kindergärten, vorgegeben wird, wo es oft darum zu gehen scheint, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel in die Köpfe der Kinder zu stopfen.

DKM | Dazu kommen die langen täglichen Schulzeiten für Kinder und Jugendliche.
AV | Und just deshalb sind die Pausen um so wichtiger. Wir Erwachsene wissen, wie wichtig Arbeits­pausen für uns sind. Auch Planer von Kongressen und Tagungen wissen dies längst. In den Pausen
werden nicht nur Kontakte geknüpft oder vertieft, es findet in diesen Momenten auch Vertrauens­bildung statt, soziales Abspüren, was gerade jetzt wichtig ist, aktiv und passiv. Und das ist in der Schule genauso: Wo viel Kopfarbeit und Stillsitzen gefordert wird, müssen zuverlässige und lange Pausen eingebaut sein. Gerade die besonders engagierten Lehrerinnen und Lehrer können da noch viel lernen.

DKM | Wie können wir Erwachsene das Spielen fördern?
AV | Es genügt, wenn wir einfach spielen! Wenn wir über das Spiel sprechen, müssen wir zuallererst über uns Erwachsene sprechen. Es hilft, wenn wir uns daran erinnern, wie wir als Kinder gespielt haben, was die eindrücklichsten Erfahrungen, Stimmungen waren. Das kann wie ein «Nachreifen» sein, das uns auch den Kontakt zu unseren eigenen Kindern neu erschließt. Und über den direkten Kontakt, das gemeinsame Tun, dann über die Berührung und die Sinne können wir viel von Kindern, von Tieren und von der Natur lernen. Aus dieser Erfahrung, der ich selbst mich immer wieder aussetze, entwickelt sich – spielerisch – eine neue Beweglichkeit im Denken. Wir sollten als Erwachsene so lange und so intensiv spielen, bis wir Begriffe wie Leistung und Erfolg nicht mehr höher einschätzen als die Offenheit für neue Erfahrungen – vor allem für mehr Lebensfreude, die zu jedem echten Spiel gehört.