Wolfgang Held

Die Zeit und die Liebe

Nr 157 | Januar 2013

Es ist vermutlich der verbreitetste Widerspruch im heutigen Leben: Nie hatte man ein solches Maß an freier Zeit zur Verfügung wie heute, hatte eine solche Fülle an Instrumenten zur Hand, um Zeit einzusparen, und dennoch fühlen sich die meisten Menschen getrieben und gehetzt wie nie zuvor. Zur Erinnerung: Bevor Maschinen in das Leben kamen, lag die Arbeitszeit bei 14 bis 16 Stunden pro Tag, hatte die Woche 60 bis 80 Stunden Arbeit. «Freizeit» als Begriff gab es nicht. Erst im 19. Jahrhundert sank die Arbeitszeit auf 10 Stunden täglich und vor etwa hundert Jahren schließlich auf 8 Stunden. Wie also ist es möglich, dass gefühltes und tatsächliches Zeitbudget so weit auseinander liegen? «Wir sind Zeitmillionäre und fühlen uns als Zeitbettler», so hieß es im vergangenen Monat in diesem Magazin – und es wurden drei innere Zeitdiebe genannt, die diesen Reichtum an Zeit nehmen.
Jene lakonische Rückfrage auf die Klage eines Menschen: «Hast du ein Problem, oder bist du das Problem?», beantwortet sich, wenn es um die Zeit geht, tatsächlich auf letztere Art. Man ist selbst das Problem, oder freundlicher formuliert, macht sich zum Opfer von drei Zeit-Untugenden, drei Zeitdieben.
Dem ersten Zeitdieb ist man vielleicht schon beim Lesen dieser Zeilen begegnet: Man begann zu lesen, doch dann zieht es den Blick vom Text zum Bild und von dort aus der Zeitschrift zu etwas Unerledigtem, Unerfülltem im Umkreis. Durch Unkonzentriert­heit schmilzt der Zeitreichtum dahin; weil man viele Dinge mit halber Aufmerksamkeit und womöglich gleichzeitig betreibt, vermag nichts zum Abschluss zu kommen, nichts zu reifen, ist man überall und nirgends, muss immer wieder von Neuem die Auf­merksamkeit sich sammeln – und das braucht Zeit.
Der zweite Zeitdieb ist der Stress. Wund von einem Zuviel an Veränderung, verliert man die Übersicht, versucht immer schneller Aufgaben zu erledigen und wird dabei immer unproduktiver. Sobald man sich besinnt, vielleicht mit fremder Hilfe Ordnung in den Lebensfeldern von Beruf, Familie und innerem Leben schafft, wird man vom Opfer wieder zum Gestaltenden der Zeit.
Zum dritten Zeitdieb führt der Weg durch die umgekehrte, positive Frage: «Wann schien mir die Zeit still zu stehen?». Wann galt Schillers Ausspruch «Dem Glücklichen schlägt keine Stunde»? Als Sorgen und Sehnsüchte stumm wurden und man ganz in der Gegenwart engagiert war. Und wie war das möglich? Durch Interesse an dem, was hier und jetzt geschieht, wird man antworten. «Und wie gewinnt man das Interesse?», mag man weiterfragen und gerät zu der einfachen und zugleich großen Antwort: durch Liebe.

Tatsächlich, die treibende Kraft hinter dem Interesse, hinter der Empathie zum Hier und Jetzt ist die Liebe. Menschen, die lieben, haben alle Zeit der Welt. Was man liebt, dem widmet man sich mit seiner ganzen Existenz. Mit einem Male verlieren Vergangenheit und Zukunft, verlieren Sorgen und Sehn­süchte ihre Kraft. Was zählt, ist dieser Ort, der heute allzu leicht verschwindet, unfassbar wird: die Gegenwart. «Der Liebe Sehnsucht fordert Gegenwart», sagt Goethe und meint damit, dass überall, wo es gelingt, das, was einem gegenübersteht, was man gerade tut, gerne zu tun, Frieden mit der Gegenwart geschlossen wird.
Es gibt diese buddhistische Geschichte über das Glücklichsein: Ein Mann wird gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so glücklich sein könne. Er sagte: «Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich liebe, dann liebe ich ...» Dann fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: «Das tun wir auch, aber was machst du darüber hinaus?» Er aber sagte zu ihnen: «Nein – wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon, wenn ihr steht, dann lauft ihr schon, wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.»
Der buddhistische Mönch schildert in der vielzitierten Geschichte die Grammatik der Achtsamkeit. Sei bei dem, was du tust, mit der ganzen Seele dabei. Dieser Hang, sich immer schon am Ziel zu sehen, diese Ungeduld, diese innere Hektik ist der Schattenwurf von Lieblosigkeit. Man stört sich an der Gegenwart. Sie steht als unliebsames Hindernis vor dem Ziel, das noch in der Zukunft liegt. Denn je weniger es gelingt, der gegen­wärtigen Welt mit Liebe gegen­überzutreten, desto größer ist die Hoffnung, dass es umgekehrt die Welt ist, die einem selbst Liebe schenken wird. Das liegt aber in der Zukunft, so dass man möglichst schnell in diese – vermeintlich glücklichere – Zukunft geraten will. Und so ist man selbst es, der der Zeit Feuer gibt. Lieblosigkeit, Unlust, Motivationslosigkeit oder wie man sonst dieses passive Verhältnis zum Jetzt nennen mag, lässt das Rad der Zeit schneller drehen.
Die heutige Kultur bietet in tausend Farben Vergnügen und Zerstreuung an. Zum «Spaß» gehört, das hat bereits Platon beschrieben, dass aus ihm der Wunsch nach noch mehr, noch größerem Spaß wächst. Der liegt aber – wie soll es anders sein – in der Zukunft. Und so ist es eine ganze Kultur, die nach vorne drängt zum neuen Hype. Sobald man das Blatt wendet und nicht mehr auf äußere Erfüllung wartet, sondern umgekehrt damit beginnt, der Welt Zuwendung zu schenken, ist es nicht mehr die Zukunft, die Großartiges verspricht, sondern es ist die Gegenwart, das Hier und Jetzt, wo alles geschieht.
Robert Levine, der amerikanische Soziologe und Zeitforscher, hat mit seinen Studenten untersucht, wie schnell die Menschen in verschiedenen Ländern durch die Städte laufen. In seinem Buch Eine Landkarte der Zeit beschreibt er das Ergebnis. Je grüner eine Stadt ist, umso langsamer laufen ihre Bewohner. Die Natur, als Angebot der Zuwendung, wirkt entschleunigend. Sein weiteres Experiment stimmt nachdenklich: Die Studenten sollten mit gekrümmter Haltung an einer Häuserecke stehen und Bauchschmerzen mimen. Die Frage war, ob vorübergehende Menschen stehen bleiben und ihre Hilfe anbieten. Resultat: Je grüner es ist und umso langsamer die Menschen sich bewegen, umso eher sind sie geneigt, ihren Weg zu unterbrechen und helfen zu wollen. Das Grün schafft Empathie zum Jetzt, man wird langsamer – und weil man langsamer wird, wächst die Bereitschaft, empathisch einem anderen zu helfen. Ein großartiger Kreislauf.