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Richard Scrimger

Meine Seele ein Meer

Nr 157 | Januar 2013

Von der Zerbrechlichkeit der Erinnerungen

Richard Scrimger ist ein 55-jähriger Schriftsteller aus Cobourg / Kanada, dessen Werke in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Rose Rolyoke, Protagonistin seines neuen Romans, lebt ebenfalls in Cobourg – doch sie lebt auch in Montreal, in Quebec, in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, und das alles gleichzeitig. Das Gefüge von Raum und Zeit hat sich für Rose aufgelöst, den Unterschied zwischen Damals und Jetzt gibt es nicht mehr. Auf wunderbar einfühlsame und dabei nicht selten humorvolle Weise zeichnet Scrimger das Leben seiner an Demenz erkrankten Heldin nach.


WER SIND SIE? Das frage ich oft. Ich liege gegen einen Stapel Kissen gelehnt, starre nach oben in ein getoastetes Gesicht und habe keine Ahnung, wer das sein soll. Toast und Konfitüre, Seitenausgang, Ringelblume. Ich kann keinen Zusammenhang erkennen. Nein nicht getoastet – besorgt. Das habe ich gemeint.
Ich bin Sanjay, sagt er. Er nimmt meine Hand und hält sie behutsam.
Sind Sie Prediger?, frage ich.
Mutter!, sagt Harriet von der anderen Seite. Mutter, du erinnerst dich doch an Dr. Berman?
Hallo, sage ich. Er wartet, bis ich fertig bin mit Husten, und wischt mir dann den Mund ab.
Draußen wird es langsam dunkel. Wir befinden uns auf dem Rück­weg zur Villa. Die Gefahr ist vorbei. Im Krankenhaus haben sie das, was undicht war, repariert, und die Luft ist wieder rein. Der Trans­porter schaukelt ein bisschen, als wir um die Kurve biegen. Ich bin festgeschnallt, aber Dr. Berman muss sich festhalten.
Wo ist Albert?, frage ich.
Dr. Berman blinzelt. Für einen Mann hat er erstaunlich schöne Wimpern. Lang und seidig. Seine dunklen Augen sind auf der Seite schläfrig nach unten gebogen. Ich weiß nicht, sagt er.
Er wurde an einen anderen Ort verlegt, sagt Harriet. Drüben im Osten der Stadt – ich kann mir den Namen einfach nicht merken, sagt sie.
Nicht Hölle – als Kinder sagten wir dazu Der Andere Ort: Pass auf, sonst kommt du an den Anderen Ort! Eines der Dienstmädchen im großen Haus in Philadelphia hatte es auch immer mit dem Anderen Ort. Wir zogen sie immer damit auf. Gib ordentlich Stärke in die Manschetten, Abigail, sagten wir. Wenn du zu wenig nimmst, verfrachtet Parky dich an den Anderen Ort. Abigail? Adeline? Irgendetwas in der Art. Sie war sehr strenggläubig. Ihr Aufenthalt war nur kurz.
St. Dominic?, fragt der Arzt.
Ja, das ist es, sagt Harriet.
Wo ist Dr. Sylvester?, frage ich.
Er liegt hinten, am Ende des Transporters, erklärt Dr. Berman. Er hat sich verletzt, als wir vor einer Weile in die Kurve gefahren sind.
Sind wir bald zu Hause?, frage ich.
Ja, sagt er und steht auf, schaukelt dabei ein bisschen mit dem Trans­porter mit. Sehr bald.
Sie nahmen sich viel Zeit, die beiden, als sie da über ihren Broschüren und Merkblättern saßen und nachdachten. Ab und an schaute Harriet über die Schulter zu mir her, und dann lächelte ich. Die Hand des Doktors lag auf dem Tisch neben Harriets Hand. Wenn er sie bewegte, um auf irgendetwas zu deuten, streifte sein kleiner Finger den ihren.
Es gibt lange Wartelisten, sagte der Doktor. Möglicherweise dauert es sechs Monate, bis sie in einem passenden Heim aufgenommen wird.
Und in der Zwischenzeit?, fragte Harriet.
In der Zwischenzeit wird sie Dinge verlieren. Sie wird vergessen, den Herd abzudrehen, sagte der Doktor, und gefährliche Männer in ihre Wohnung lassen. Es tut mir leid, Miss Rolyoke – ich weiß, es ist schwierig, sagte er und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, der Typ Mann, der seine Hosenbeine leicht hochzieht, bevor er sich setzt, sodass die Hose dann ausbeult, wenn er wieder aufsteht.
Es geht abwärts, sagte der Doktor. Es geht abwärts mit ihr. Tut mir leid, sagte er.
Harriet drehte sich zu mir. Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln … »