Birte Müller

Spießertum

Nr 159 | März 2013

Ich hatte mich immer bemüht, ein möglichst unspießiges Leben zu führen. Oder wenigstens das, was ich dafür gehalten habe. Argumentationen im Sinne von «So etwas macht man nicht» haben mir schon als Kind nicht eingeleuchtet und mich immer dazu verleitet, etwas erst recht zu tun.
Eigentlich passte die Geburt unseres Sohnes Willi mit Down-Syndrom ganz gut in dieses Konzept. Das muss ja heute bekannter­maßen auch nicht mehr sein. Und tatsächlich macht dieser kleine Kerl in vielerlei Hinsichten echtes Spießerleben unmöglich. Er kann niemals stillsitzen, er küsst fremde Menschen, es ist ihm nicht zu vermitteln, dass man nicht quer durch die Nachbarsgärten läuft, nicht in fremde Autos einsteigt, um dort ein wenig zu lenken und am Radio herumzufummeln, und von seinen Tischmanieren will ich hier gar nicht reden! Außerdem mag Willi genauso gerne wie seine Eltern laute Musik, er zieht sich bei jeder Gelegenheit die Schuhe und Strümpfe aus – und wenn wir es zulassen würden, wären seine Haare so lang und verfilzt wie die von Bob Marley.
Auf der anderen Seite aber ist Willi ein echter Spießer! Zum Beispiel will er IMMER dieselbe Musik hören! Mal eine neue CD anzubahnen ist ein langwieriger und nervenraubender Akt, der aber manchmal sein MUSS, weil auch Eltern in Sachen ätzender Kindergartenlieder nicht unendlich belastbar sind. Willi muss die Musik auch möglichst immer in derselben Position hören:
auf dem Bauch seiner Puppe liegend, mit dem Ohr direkt vor dem Lautsprecher, dabei ewig an den Knöpfen des Kinder-MP3- Players nestelnd, den wir am Boden fest verschraubt haben. Wenn ich der Puppe mal etwas Neues anziehen muss, weil Willi sie komplett vollgeschmoddert hat, ist das schon ein mittelgroßes Drama für meinen Sohn, der will, dass sie IMMER DASSELBE an hat.
Willi hat noch viele andere Spießer-Anwandlungen. Türen sollen IMMER geschlossen sein, Lampen immer an, Papa soll nie eine Mütze oder Sonnenbrille tragen, Handtücher werden mir sofort vom Kopf gerissen und das größte Drama erlebe ich, wenn ich abends mal für die Kinder statt Brot z.B. eine Minipizza mache: Olivia freut sich über die Abwechslung, doch Willis Empörung ist unendlich! Er ist auch nicht dazu zu bewegen, die Pizza zu probieren, keine Chance, sie wird wütend weggeworfen und er bricht in Tränen aus. Es MUSS Abendbrot sein. Und es MUSS sein Kuh-Brettchen sein. Basta!
Außerdem hat Willi meinen Mann und mich ebenfalls in Spießer-Zugzwang gebracht. Als ich mit seiner Schwester schwanger wurde, wohnten wir im vierten Stockwerk einer Altbauwohnung in einem Hamburger Szeneviertel, das Wort «Reihenhaus» war eine Art Schimpfwort für uns. Aber Willi konnte damals noch nicht einmal selbst sitzen, und wir brauchten aufgrund eines Luftröhrenschnittes einen ganzen Berg an Hilfsmitteln (inklusive einer Sauerstoffflasche), um mit ihm das Haus verlassen zu können. Zusätzlich litt er an schweren epileptischen Anfällen und seine Prognose, einmal laufen zu lernen, war sehr schlecht. Also waren wir praktisch gezwungen, ein spießiges Reihenhaus zu bauen. Tatsächlich verbesserte sich Willis Zustand unerwartet und der Junge lernte ruckzuck laufen, sodass wir als Nächstes auch noch den Garten komplett spießermäßig einzäunen mussten … Aus unserem kultigen VW-Camper T3 ist ein spießiges Riesenwohn­mobil geworden, und statt auf coole Rockfestivals pilgern wir nur noch auf Stadtteilfeste mit Blaskapellen, die zur Zeit Willis neue musikalische Leidenschaft sind (Danke, Opa Horst!).
Wir dürfen also gespannt sein, wohin unser gemeinsamer Weg noch so führt, denn eines wissen wir seit Willi ganz sicher: Das Leben ist nicht planbar, und das ist gut so. Nur bitte Willi, bitte nicht eines Tages das Frühlingsfest der Volksmusik ...