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Rosemary Sutcliff

Blutfehde

Nr 160 | April 2013

gelesen von Simone Lambert

Jestyn, der Engländer, erinnert sich an die abenteuerlichen Ereig­nisse, die ihn vor dreißig Jahren von Britannien bis nach Byzanz geführt haben. Die zwölfjährige Vollwaise einer christ­lichen Sächsin und eines keltischen Wanderschmieds wird zum Hütejungen eines Viehhirten, bis er bei einem Überfall der Nordländer fünf Jahre später versklavt und nach Dublin gebracht wird. Thormod, ein junger Wikinger, kaum älter als er selbst, kauft ihn dort. Vom ersten Augenblick an verbindet die beiden mehr als Herrschaftsverhältnisse. Thormod schenkt Jestyn die Freiheit, nachdem dieser ihm in einem Moment der Bedrängnis zu Hilfe geeilt war. Als Freunde ziehen die beiden in Thormods Heimat, nach Dänemark. Jestyn will auch mit ihm gehen, als Thormod das Blut seines Vaters rächen soll. Sie werden Blutsbrüder. Und so jagen die beiden Thormods Jugendfreunde Herulf und Anders, die Mörder seines Vaters, auf der Südostroute Richtung Byzanz.
Dies ist eine Geschichte, in der Neigungen und Freundschaften von Werten wie «Blutsbande» und «Ehre» zerstört werden. Drei Leben wird die Fehde kosten, sie wird einen Lebenstraum in Bitterkeit tauchen und erst den vierten Beteiligten läutern. Rosemary Sutcliff verfolgt die Reise mit anschaulichen Beschreibungen, erzählt von den Mühen, wenn das Schiff über die Landenge zwischen den Flüssen Dwina und Dnjepr getragen werden muss, von der Schönheit Kiews, wo Herulf sein Leben im Zweikampf lässt, von Landschaften und Jahreszeiten.
Bei allen geschilderten Grausam­keiten beschreibt sie den Ent­wicklungsprozess des Protagonisten überraschend subtil, fast lyrisch. Spannungsvoll verbindet sie die Schicksalserzählung mit historisch verbürgten Fakten: Khan Wladimir heuerte Wikinger für die Söldner­truppe an, die er dem Kaiser Basileios II. von Byzanz 987 n. C. für dessen Kriege vermakelte. Als Teil dieses Heers stirbt Thormod während eines Scharmützels in den thrakischen Bergen – nicht durch die Hand eines Rebellen, sondern durch Anders’ Wurfaxt. Es vergeht eine lange Zeit, bis Anders und Jestyn den letzten Teil des Fehdekampfes austragen.
Jestyn, den Ich-Erzähler, stellt die Blutrache in einen komplexen Konflikt. In ihm kämpfen seine heidnischen und christlichen Wurzeln miteinander, seine nomadische Erfahrung und seine Sehnsucht nach Sesshaftigkeit und Zukunft, sein Wunsch, dem Freund Loyalität zu erweisen und seine Veranlagung, zu helfen und Leben zu fördern. «Ich hatte nichts von der grimmigen, fast be­lustigten Schicksalsergebenheit der Nordländer. Ich war jung und ich wollte leben. Ich wollte, dass Thormod am Leben bliebe. Ich wollte noch andere Wildgänse an anderen leuchtenden Morgen sehen.» Der kriegsverletzte, körperlich behinderte Jestyn hat bereits ein neues Leben begonnen, als Anders schließlich vor ihm steht …
Jestyn wird vom Hirten zum Krieger und vom Krieger zum Arzt. Er wird sein Leben ordnen, ein Zuhause und eine Aufgabe finden. Der spannende historische Abenteuerroman ist zugleich die Geschichte einer Selbstfindung und das Zeugnis einer großen Liebe zum Leben. Es sind Bilder der Natur, mit denen Sutcliff den ersehnten Frieden beschreibt: ein Bauernhof in den Bergen, neues Leben, dem Jestyn auf die Welt hilft – und ein Mandelbaum mit vier Ästen, drei davon tot, aus einem «brach eine Wolke blasser Blütensternchen hervor.»

Der spannende historische Abenteuerroman ist zugleich die Geschichte einer Selbstfindung und das Zeugnis einer großen Liebe zum Leben.