Lorenzo Ravagli

Der Augenblick

Nr 161 | Mai 2013

Eine Meditation im Gedenken an Søren Kierkegaard,
der am 5.5.1813 geboren wurde


Der Augenblick ist ein Bewusstseinszustand, in dem wir der Gegen­wart gewahr werden. Er setzt ein Auge voraus, das zu blicken vermag, und etwas, das erblickt wird. Alles, was sich diesem Auge zeigt, ist ihm gegenwärtig. Was ist dieses Auge? Es ist kein leibliches Auge, denn es erblickt auch das leibliche Auge. Und es erblickt nicht nur, was das leibliche Auge sieht, es erfasst auch, was kein Auge zu erblicken vermag. Denn es erfasst, was sich den Sinnen zeigt, es erfasst aber auch die Bewusstseinsinhalte, die un­abhängig von den Sinnen auftreten: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen.
Um die Gegenwart dessen zu erfassen, was sich zeigt, muss das Auge selbst schon gegenwärtig sein. Es wird aber nicht vom sich Zeigenden hervorgerufen, sondern ruft als bereits Gegenwärtiges das sich Zeigende hervor. Das Auge ist also das Gegenwärtige. Es ruft sich selbst hervor. Und es vermag sich selbst zu erblicken.
Das sich selbst erblickende Auge nennen wir Selbstbewusstsein.
Im Selbstbewusstsein erblickt sich das Selbst als gegenwärtig.

Auf keine andere Weise vermag sich das Selbst zu erblicken, außer als Gegenwärtiges. Das Selbst kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft, es ist zeitlos. Da es keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, kann es sich nicht an sich erinnern oder sich als Zukünftiges sehen. Wenn es sich erinnert, dann ist die Er­innerung für es genauso gegenwärtig wie der übrige Weltinhalt. Die Er­innerung ist aber keine Erinnerung an das Selbst, sondern eine Erinnerung an etwas, was für dieses Selbst gegenwärtig war.
Das Selbst besitzt keinen Leib, aber es ergreift den Leib und lebt in ihm. Es besitzt keine Seele, aber ergreift die Seele und lebt in ihr. Durch den Leib und die Sinne des Leibes wird die Welt zu seinem Wesensinhalt, durch die Seele die Zustände des Fühlens, Wollens und Denkens. Wäre dieses Selbst nicht in der Gegenwart anwesend, flössen die Zustände des Leibes und der Seele unbemerkt vorüber. Aber indem es sich in diesen Zuständen spiegelt, erlangt es ein Bewusstsein von ihnen. Das Selbst vermag sich in allen Weltzuständen zu spiegeln und indem es dies tut, vereinigt es sich mit ihnen. Dieses Spiegeln ist eine Tätigkeit des Selbstes. Das Selbst ist reine Tätigkeit, die sich allem zuwendet, was sich zeigt. Aber nur indem es sich einem Weltinhalt tätig zuwendet, zeigt er sich, wird er Gegenstand für das Selbst, wird das Selbst mit diesem Gegenstand eins. Man kann daher auch sagen, dass das Selbst Licht ist, tätiges Licht, das den Weltinhalt erleuchtet, und indem es diesen erleuchtet, ihn zur Offenbarung bringt. Ohne das tätige Licht des Selbstes, ohne sein erhellendes Feuer, wäre die Welt in Dunkelheit getaucht. In jene Dunkelheit, die vor uns zurückweicht wie das schwarze Meer der Nacht, wenn die Sonne am Horizont aufleuchtet. Wie eine Sonne steigt das Selbst aus der Finsternis des Tiefschlafs empor und lässt mit seinem Auge die Welt erscheinen. Mit seinem tätigen Licht bringt das Selbst die Inhalte der Sinne, die Erlebnisse der Seele zur Erscheinung, mit seiner Wärme erweckt es das Leben in der
kalten Finsternis des Todes.

Das Selbst ist die mikrokosmische Sonne. So wie die Sonne im Makrokosmos mit ihrem Licht und ihrer Wärme Leben und Bewusstsein hervorruft, ruft auch das Selbst in der Seele und im Leib des Menschen Leben und Bewusstsein hervor. Indem es seine Wärme in den Leib ausgießt, belebt es diesen. Indem es die Seele mit seinem Licht durchstrahlt, entzündet es in dieser das Bewusstsein. So wie die Sonne das bewegte Zentrum unseres Planetensystems ist, so ist unser Selbst das bewegte Zentrum unserer Seele, unseres Leibes, unserer Welt. Die Seele mit ihren Gefühlen, Gedanken und Strebungen kreist um dieses Zentrum, der Leib mit seinen Organen kreist um es, genauso wie die Planeten um die Sonne kreisen, wie die Erde um die Sonne kreist. Gäbe es dieses Zentrum nicht, fiele das labile System von Kräften, das der Mensch ist, auseinander, ebenso wie das Planetensystem auseinanderfiele, wenn es die Sonne nicht gäbe, die es im Gleichgewicht hält. Das Selbst ist das Gravitationszentrum, das die Kräfte der Seele und des Leibes an sich heranzieht und sie im Gleichgewicht hält. Und das Selbst ist die Quelle der Zeit. Denn das leuchtende Auge des Selbstes ist Gegenwart. Aber was im Licht dieses Auges aufleuchtet, erlischt auch wieder und wird zu einem Dagewesenen. Solange das Auge sein Licht auf einen Inhalt der Welt wirft, erstrahlt dieser im Glanz der Gegenwart. Sobald das Licht sich einem anderen Weltinhalt zuwendet, leuchtet dieser andere Weltinhalt auf und der vorhergehende erlischt. Ebenso wie das Dagewesene entspringt auch das Zukünftige aus dem Licht des Selbstes. Denn das Zukünftige ist der mögliche Weltinhalt, dem das Selbst sich noch nicht zugewendet hat. Die Gegenwart ist ewig, auch wenn wir sie nur im Augenblick erfassen. Vermöchten wir, den Augenblick ins Unendliche auszu­dehnen, wäre uns der ganze Weltinhalt im Bewusstsein gegenwärtig. Was für das mikrokosmische Selbst eine bloße Denkmöglichkeit ist, das ist für das makrokosmische Selbst Wirklichkeit. Denn die Sonne erleuchtet und erwärmt den gesamten Kosmos zugleich und auf einmal, sie durchdringt mit ihrem Bewusstsein den gesamten Kosmos. Für das makrokosmische Selbst ist der gesamte Kosmos ewig gegenwärtig. Der sichtbare Ausdruck für diese ewige Gegenwart des kosmischen Selbstes ist die Bewegung der Planeten um die Sonne. Denn diese Bewegung hat weder Anfang noch Ende.

Unser menschliches Selbst ist das kosmische Selbst, das mit seiner Wärme und seinem Licht unseren Leib und unsere Seele durchdringt. Wie ein Funke der Zentralsonne des Universums leuchtet dieses Selbst in der Gegenwart unseres Bewusstseins auf, und unser Bewusstsein von ihm erlischt, wenn wir in Schlaf versinken. Dass das Bewusstsein von diesem Selbst abwechselnd aufleuchtet und erlischt, spricht nicht gegen die Ewigkeit dieses Selbstes, sondern nur gegen die Ewigkeit des Spiegelbildes dieses Selbstes in uns. Die Sonne des Lebens und des unsterblichen Selbstes können wir nur in der Gegenwart, im Augenblick, erfassen. Was wir aber in seinem Lichte erfassen, das geht in seiner Ewigkeitsbedeutung in unserem Bewusstsein auf.
Von diesem Augenblick sprach ein religiöser Denker, dessen 200. Geburtstag wir dieses Jahr feiern: Søren Kierkegaard. Sein Werk zeugt von der Suche nach dem göttlichen Selbst in der Gegenwart des immerwährenden Augenblicks.