Titelbild Hochformat

Wilhelm Hoerner

Nr 164 | August 2013

Die Zeit bedenken

Das große Ereignis seines hundertsten Geburtstags stand bevor. Das Fest war für den 22. Juli geplant. Eine Festschrift wurde vorbereitet: «Ritter zwischen Tod und Teufel». Nun ist aus der Fest- eine Gedenkschrift geworden, der die Todesnachricht beigelegt wurde, denn Wilhelm Hoerner starb am 13. Juni – 40 Tage vor seinem Hundertsten.

Wilhelm Hoerner war Priester in der Christengemeinschaft seit 1939. Er war Geisteswissenschaftler im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners und Goetheanist im Sinne Goethes. Und er war ein Künstler. Zeichnen und Malen, das pflegte er seit seiner Kindheit. Der fränkische Lehrersohn wurde im südlichen Steigerwald geboren. Den Vater musste er wegen des Krieges viele Jahre entbehren. Als er zurückkehrte, wurde er dem Knaben zum Führer zu allen Bereichen der Natur. Intensiv nahm dieser alles auf, unersättlich war sein Erlebnis- und Wissensdurst, und Frömmigkeit erfüllte seine Seele.
Im Internat sowie im Gymnasium in Ansbach lernte der heranwachsende Wilhelm mit all seiner Begabung die Widerstände des Lebens kennen. Die gottgeschaffene, gottdurchdrungene Welt von den Steinen bis zu den Gestirnen wurde naturwissenschaftlich, mechanistisch erklärt. Und der Mensch sollte durch und durch Sünder sein? Die Grundfragen des Daseins tauchten in ihm auf. Mit zwei Freunden suchte er ein menschengemäßes Erkennen. Er fand es nicht im Studium der Theologie. Er fand es in der Anthropo­sophie und begegnete der Christengemeinschaft mit 21 Jahren. Spurensuche einer Schicksalsführung nennt er später seine Autobiografie.
1937 wechselte der Student Wilhelm Hoerner von der Evan­gelischen Theologie in Erlangen nach Stuttgart an das Priester­seminar der Christengemeinschaft und empfing am 4. Juni 1939 die Priesterweihe. Wenige Wochen später rief ihn das Nazi-Militär zu einer «mehrtägigen Übung». Das hieß den Zweiten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag mitmachen und anschließend von 1945 bis Ende 1951 Gefangenschaft, KZ-Haft nach der Folter im Jugoslawien Titos.
1953, vierzehn Jahre nach der Priesterweihe, begann er bei uns in Bremen seine Gemeinde-Arbeit. Wir erlebten ihn beim Zelebrieren der Weihehandlung, als unseren Jugendpfarrer auf Tagungen, als Redner bei Vorträgen und Gemeinde-Abenden.
Elf Jahre später ging er nach Esslingen am Neckar und baute dort seine Kirche.
Ab 1960 begann sich Hoerners Arbeitsbereich weit über seine Ge­meinde hinaus auszuweiten. Schon zuvor schrieb er Aufsätze im Pfarrer-Rundbrief zum Thema «Tatsache und Ge­danken zur Oster­regel». Es war die Zeit weltweiter Be­strebungen, die Kalender­ordnung (angeblich) zu vereinfachen und das Datum des Osterfestes zu fixieren. Aus seinen Studien gingen wichtige Arbeiten hervor: Er gründete im Verlag Urachhaus den Urachhaus Taschenkalender, der bis heute jährlich erscheint. Er kämpfte über Jahre erfolgreich gegen die Festlegung der geplanten neuen Kalenderordnung. Es erschien das Buch Der Kampf um das bewegliche Osterfest und schließlich neben anderen Titeln das Standardwerk Zeit und Rhythmus.
Seinem Willenswesen gemäß hatte alles Wirken Wilhelm Hoerners einen bewegten und bewegenden Charakter. Eindeutig und in weitem Horizont waren seine Äußerungen, selbst wenn sein vulkanisches Gebaren manchmal viel Feuer versprühte. Und wie behutsam dagegen konnte er sein, ob er einen Falter beobachtete, Schwäne fütterte, einem Menschen lauschte, ihn sachte führte oder seine geliebte Frau bis zu ihrem Tode hingebungsvoll pflegte.
«Unser Herr Hoerner» wurde er in seiner Gemeinde genannt. Man wusste, was man – und wen man mit ihm hatte. Respekt und Verehrung im sachlichen Sinne war die seelische Stimmung um ihn.
Wer ihn im Altenheim besuchte, wurde in intensive, tiefschürfende Gespräche geführt – und spät erst wieder verabschiedet. Schwere leibliche Schmerzen trug er ununterbrochen durch Jahrzehnte und nahm keine Mittel dagegen. Jetzt ist er über die Schwelle des Todes gegangen, wach bis zum letzten Tag. Wach wird er unsere Wege von dort aus begleiten. Wach wollen wir ihn in unserem Gedächtnis bewahren, dankbar und dauernd.

von Rudolf F. Gädeke