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Frances Hardinge

Nr 165 | September 2013

Frei unterwegs

Das Beste an der Tätigkeit als Vollzeit-Schriftstellerin ist die Freiheit. Das Schwierigste ist – auch die Freiheit. Ich arbeite wie in einem leeren Raum; niemand schaut mir auf die Finger. Nichts und niemand hält mich davon ab, mich auf Ablenkungen einzu­lassen, die ich als Arbeit tarnen kann – Bloggen, Hausarbeit, Schreibkram, E-Mails beantworten, «wichtige» Artikel lesen ...
Ich habe keine Kollegen, die mich zur Ordnung rufen könnten, niemanden, der mir sagt, ob meine «Luftschlösser» auf einem soliden Fundament ruhen.
Glücklicherweise bin ich in zwei Schreibclubs. Die Urteile der anderen Mitglieder sind mir eine große Hilfe, und die wöchent­lichen Treffen zwingen mich dazu, jede Woche eine ausreichende Menge Text zu schreiben.
Es gibt Autoren, die sich an festgesetzte Arbeitszeiten halten. Ich habe schon lange gemerkt, dass so etwas nichts für mich ist. Ohne Abwechslung würde ich verrückt werden. An manchen Tagen arbeite ich achtzehn Stunden lang, ohne nennenswerte Pausen, und an anderen lasse ich meinen Schreibtisch links liegen und mache eine kilometerlange Wanderung, damit ich die Handlung gründlich durchdenken kann. Und um die Isolation, die meine Arbeit mit sich bringt, auszugleichen, pflege ich ein aktives Sozialleben. Und ich probiere neue Dinge aus. Vor Kurzem habe ich ein Flugzeug gesteuert – es ging um eine Wette.
Anlässlich einer Lesung fragte mich einmal ein Schüler, wann ich am glücklichsten sei. Ich musste zugeben, dass ich mit mir am meisten im Reinen bin, wenn ich unterwegs bin, nicht hier und nicht dort. Reisen ist eine der großen Leidenschaften meines Lebens und ein wunderbarer Motor für meine kreative Vor­stellungskraft. Im Ausland finde ich eine Unmenge «frisches Material», und ich bin ein großer Anhänger des Kulturschocks: Das ist eine unschlagbare Methode, um den Kopf frei zu bekommen. Ich liebe die Aufregung, mich jenseits meiner «Kuschelzone» zu bewegen und mich zu ermahnen, dass alles, was ich weiß, falsch ist.
Die Heldinnen und Helden meiner Romane unternehmen ebenfalls Reisen – wenn auch weniger freiwillig als ich selbst. Reisen, in denen auch sie entdecken, dass alles, was sie wissen, nicht stimmt. Mein Roman Wunsch Traum Fluch ist da keine Ausnahme: Die Protagonisten werden auf einer wahren Achterbahnfahrt mit der Natur der Wünsche konfrontiert.
Wünsche faszinieren mich. Ein Wunsch ist manchmal das Ver­langen, die Wirklichkeit zu verändern, aber nicht auf normale oder logische Art, sondern durch unsichtbare Kräfte, mit denen man etwas bewirken möchte. Es ist weder direkt ein Gebet, denn ein Gebet ist an ein bestimmtes Wesen gerichtet, noch ist es ein Versuch, die Welt auf wundersame Weise zu ver­ändern, allein durch Willens­kraft. Meistens ist es ein Flehen in den leeren Raum hinein, ohne dass sich der Wünschende Gedanken darüber macht, wer oder was eigentlich der Adressat des Wunsches ist. Wenn wir eine Kerze ausblasen und uns dabei etwas wünschen, erwarten wir dann, dass der Kuchengott uns erhört? Und wenn wir eine Kupfermünze in einen Wunschbrunnen werfen, denken wir dann auch nur eine Sekunde darüber nach, wem wir gerade ein Opfer dargebracht haben?
Es mag verwundern, dass ich die Vorstellung, einen persönlichen und im Grunde bloßstellenden Gedanken einer geheimnisvollen, unbekannten Macht zu offenbaren, ein bisschen ... unheimlich finde. Oder vielleicht auch nicht. Denn was wäre, wenn diese geheimnisvolle Macht auf das Opfer reagieren würde?


Aus dem Englischen von Alexandra Ernst


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