Robert Menasse im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Europa, unser logisches Zukunftsprojekt!

Nr 169 | Januar 2014

Selbstverständlich reisen wir im Urlaub in benachbarte Länder, fast jedes Unternehmen profitiert von europa- und weltweiten Geschäften. Wer weiß, wie es vor 60 Jahren war, kann nur über die Vielfalt der freien Möglichkeiten staunen. Europa ist heute unser Alltag – aber die Europäische Union (EU) scheint manchen problematisch: Brüssel (mit der Europäischen Kommission) wird mit Bürokratie und unsinnigen Vorschriften verbunden; Deutschland brauche die EU eigentlich nicht.
Was ist Vorurteil, was Realität? Diese Frage bewegte auch den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, der u.a. die mehrfach preisgekrönten Romane «Selige Zeiten, brüchige Welt», «Die Vertreibung aus der Hölle» oder «Don Juan de la Mancha» veröffentlichte. Um für ein Romanprojekt Material über einen Beamten der EU zu sammeln, schaute er sich in Brüssel um. Daraus entstand zunächst sein Essay-Band «Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas» (Wien 2012). Jenseits einfacher Schwarz-Weiß-Bilder führt er darin anschaulich und kenntnisreich durch das Heute, Gestern und mögliche Morgen Europas.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Menasse, welche Verbindung haben Sie persönlich zu «Europa»?
Robert Menasse | Seltsame Frage. Ich bin Europäer. Durch Geburt, Sozialisation und Erfahrung.

DKM | Ist Europa nicht zu vielfältig und zu widersprüchlich, um für alle auf diesem Kontinent eine gemeinsame Grundlage zu stiften?
RM | Europäisches Bewusstsein bedeutet heute genau das nicht: eine radikal kollektive Identität zu haben: gemeinsame Sprache, Ethnie, Religion, und der Glaube daran, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein, die sich gegen andere behaupten müsse. Europäisches Leben und europäische Entwicklung ist vielmehr die Befreiung von diesen letztlich vormodernen Selbstdefinitionen, die im Grunde ein Wir-Gefühl herstellen, das andere ausgrenzt und jederzeit aggressiv werden kann: Ich bin Christ, kein Jude und kein Moslem. Oder: Ich bin Deutscher und kein Franzose oder Grieche. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass just diese Definition von Identität zu den brutalsten Kriegen und zu den größten Menschheitsverbrechen geführt hat. Das Europa, das aus dieser Erfahrung heraus entsteht, ist ein Angebot an die Menschen, Unterschiede und Vielfalt als Reichtum anzuerkennen und als Vermehrung von Lebenschancen zu erleben, auf der Basis von Gemeinsamkeiten, auf die sie sich wirklich alle vernünftigerweise einigen können: Anerkennung der Menschenrechte, Demokratie, Rechtszustand, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit.
So abstrakt das klingt, es hat doch sehr konkrete Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen. Allerdings haben Sie recht: Ein Deutscher fühlt sich als Deutscher und nicht als Grieche. Andererseits kann mir kein Deutscher erklären, welche Erwartungen, Ansprüche und Hoffnungen in Hinblick auf ein geglücktes Leben er als Deutscher haben kann, die sich gänzlich von denen eines Menschen vom Peloponnes oder aus dem Alentejo unterscheiden – so, dass er sagen kann: Das will ich vom Leben, und das kann ein Grieche oder ein Portugiese nicht verstehen. Lebenschancen? Sicherheit? Rechtszustand? Politische Partizipationsmöglichkeiten? Wir können alle menschlichen Ansprüche durchgehen, wir werden kein nationales Spezifikum finden, das eine deutsche Sonder­verfassung legitimieren würde. Sprache? Nimmt ihm ja keiner. Kultur? Mentalität? Wird ihm ja nicht verboten. Er will Aner­kennung, Würde, Wohlstand? Mache es mit deiner Mentalität! Aber akzeptiere, dass Menschen mit anderer Sprache, anderer Mentalität genau dasselbe wollen. Diese Anerkennung ist heute die europäische Idee! Darauf kann man sich doch ohne alle Ressentiments einigen! Das wiederum klingt so simpel, aber genau das ist in einer Welt der aggressiven Nationalstaaten heute die europäische Revolution.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Ist das eine Utopie?
RM | Utopie heißt Nirgendwo. Aber das Europäische Projekt entwickelt sich, wenn auch in kleinen Schritten und gegen mannigfache Widerstände und mit vielen Fehlern, ganz real seit über sechzig Jahren an einem konkreten Ort, nämlich auf unseren Kontinent. Und diese Entwicklung macht etwas mit uns, mit jedem Einzelnen. Die Generation, die mit den offenen Grenzen des Schengen-Raums aufwächst, mit dem Binnenmarkt und dem Euro, tickt anders als die Generationen davor. Es ist, wie gesagt, ein Prozess, aber er ist konkret. Ich selbst habe erst durch meinen längeren Aufenthalt in Brüssel, als ich für mein Buch recherchiert habe und in die europäischen Institutionen hineingegangen bin, begriffen, wie die EU funktioniert, oder warum so vieles nicht funktioniert, und weshalb man heftige Kritik üben muss, und ich habe begriffen, dass ich das Grundsätzliche aber doch glücklich anerkennen kann. Andererseits die Gefühlsebene: Wissen Sie, was seltsam ist? Ich habe mich als Europäer zu fühlen begonnen, als ich für längere Zeit Europa verlassen hatte. Ich habe fast ein Jahrzehnt in Brasilien gelebt, an der Universität von São Paulo gearbeitet. Wenn ich gefragt wurde: «Woher kommst du?», habe ich gesagt: «Aus Österreich!», damit konnte niemand etwas anfangen. Ich habe erklärt, dann hieß es: «Ach so, du kommst aus Europa!». Irgendwann habe ich dann selbst gleich auf diese Frage geantwortet: «Ich komme aus Europa!» Und mit der Zeit habe ich gedacht: Ja, ich komme aus Europa. Ich bin Europäer! Dann war ich an der New York University, habe die USA auch bereist. In den USA wurde ich definitiv zum Europäer. Ich fand Amerika so unglaublich rückständig. Fortschritt definiert sich ja nicht nur über technologische Entwicklungen, sondern wesentlich über den Fort­schritt im Geist der Freiheit. Freiheit ist in den USA eine schöne Ideologie, aber sie ist einbetoniert in Nationalismus, religiöse Bigotterie und formal freundliche Ignoranz gegenüber einer Welt, über die Hegemonie beansprucht wird. Dort ist mir auch aufgefallen: Europa ist der einzige selbstkritische Kontinent.

DKM | Und andere Staaten auf anderen Kontinenten?
RM | Wenn irgendwo in Europa diskutiert wird, europäische Belange, europäische Interessen, dann kommt immer wieder sehr schnell der Einwand: Ist das nicht zu eurozentristisch gedacht? Diese Selbstgeißelung, in Europa ja nicht eurozentristisch zu denken, kommt immer wieder wie das Amen im Gebet. Das gibt es in den USA nicht, amerikazentristisch oder USA-zentristisch – der Begriff ist völlig unbekannt. Auch asienzentristisch oder afrozentristisch – haben Sie das jemals gehört? Diese Selbstkritik, die immer wieder einfordert, über den eigenen Tellerrand zu blicken, gibt es nur in Europa.

DKM | Aus der Entfernung sieht man oft besser auf das Ganze. Auch wenn es uns meist nicht bewusst ist, sind wir in Europa auf Schritt und Tritt mit unserer jahrhundertelangen Geschichte verbunden, die überall sichtbar ist – von den alten Kernen der Dörfer und Städte, der Besiedelungsgliederung der Landschaft, der Geschichte der Kriege und Bevölkerungswanderungen bis hin zu Kultur und sozialer Ordnung. Ganz anders neue Länder wie Neuseeland, Südamerika, die USA mit ihrer Eroberungsgeschichte.
RM | Ja, und zu unserer Geschichte, die auf die ganze Welt
aus­gestrahlt hat, gehören eben die größten Verbrechen und Kriege, aber andererseits auch die Aufklärung, die Idee der universalen Menschenrechte, die Demokratiegeschichte. Die EU ist die Konse­quenz, die aus den Kriegen und Verbrechen gezogen wurde, zugleich der Anspruch, das Uneingelöste der Aufklärung endlich einzulösen. Europäer verarbeiten Geschichte. Das gehört zur europäischen Identität. Europäer müssen ja nicht stolz darauf sein. Kollektiver Stolz hat doch etwas Gespenstisches. Menschen neigen dazu, auf jene Dinge am meisten stolz zu sein, für die sie absolut nichts können: auf ihre Nation, ihre Religion, ihre Muttersprache. Es ist doch gut, wenn Europa solche Ange­bote, die nur die Verblendung bedienen, nicht mehr macht.

DKM | Bald sind die Europawahlen. Überall in Europa entstehen antieuropäische Listen und Parteien.
RM | Wir erleben ein Anwachsen des Nationalismus. Eine Sehnsucht nach Abschottung und Schutz und Stärke im souveränen Nationalstaat. Die Menschen, die das wollen, haben begriffen: Das euro­päische Projekt, die EU, will den Nationalismus überwinden. Sie können das nicht akzeptieren.
Sie wehren sich dagegen. Sie haben das Entscheidende nicht begriffen: was der historische Vernunft­grund dieses Anspruchs ist. Dass der Nationalismus ein Verbrechen, Nation eine Fiktion, nationale Identität ein Betrug ist, ein Missbrauch von Heimatliebe. Die Gründergeneration des Europäischen Einigungsprojekts, das vorläufig zur heutigen EU geführt hat, hat in seiner Lebenszeit vier Kriege erlebt. Alle diese Kriege waren nationalistische Einigungs- und Aggressionskriege. All diesen Kriegen sind Friedensverträge vorangegangen. Die historische Lehre war: Wenn wir nachhaltigen Frieden auf diesem kriegsverwüsteten Kontinent schaffen wollen, dann nützen Friedensverträge nichts. Wir müssen den Nationalismus überwinden. Wie machen wir das? Wir bringen die Nationen dazu, nationale Souveränitätsrechte nach und nach an supranationale Institutionen abzugeben, bis die Nationen irgendwann einmal absterben. Das ist eine kühne, radikal aufgeklärte Idee. Das und nichts anderes ist die Idee der EU. Man kann und muss vieles kritisieren. Aber der Idee muss man als denkendes Gemüt doch zustimmen! Und jetzt schauen wir uns die Realität an: Was als Lehre aus der Geschichte hier ent­standen ist, ist nicht nur sinnig im Licht der Geschichte, sondern heute auch die beste Reaktion auf die globalen Anforderungen: Alles, aber wirklich alles, was heute unser Leben bestimmt, geschieht transnational: die Wertschöpfung, die Finanzströme, die Kommunikation, die Kultur, die Ökologie als Problem und als Wirtschaftsfaktor, alles. Das heißt: Europa garantiert heute nicht nur Frieden zwischen ehemals verfeindeten Nationen, Europa hat auch nach sechzigjähriger Erfahrung mit trans­nationaler Entwicklung einen globalen Wettbewerbsvorteil gegenüber allen National­staaten, auch wenn diese sogenannte Weltmächte sind. Das muss man endlich einmal begreifen.

DKM | Ein Europa ohne Nationen. Für viele Menschen ist das nicht vorstellbar.
RM | Die mit Blut und Tränen hergestellte deutsche Nation hat aus vierzig Kleinstaaten einen größeren Binnenmarkt gemacht. Glauben Sie im Ernst, dass dies das Ende der Geschichte ist? Bezweifeln Sie im Ernst, dass der auf der Basis der Freiwilligkeit, ohne Blutvergießen hergestellte europäische Binnenmarkt ein Fortschritt ist? Nationen sind ein historisches Phänomen: Sie entstanden, sie gehen unter. Vielleicht tue ich mir als «Österreicher» leichter, dies zu denken. Mentalitätsgeschichtlich wirkt bis heute in Österreich die Habsburger-Monarchie nach: ein multiethnisches, vielsprachiges Gebilde ohne Nationsidee. Und wenn heute Österreich Selbstdarstellung betreibt, dann immer über die Schiene «Alpenrepublik», Österreicher als Bergbewohner mit Lederhosen und Dirndln. Aber ich bin Wiener, und in Wien gibt es keine Berge. Österreichische Nation ist für mich kein Identifikationsangebot. Ich bin Wiener, ich bin Europäer, und ich lebe mit Ihnen auf den Massengräbern des Nationalismus.