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Georg Kühlewind

de profundis

Nr 169 | Januar 2014

Aus dem Nachlass

Lieber Freund,
in der immer mehr drängenden Finsternis reift in mir schon lange eine Frage: Kann man denn nichts tun?
Zu jeder Zeit waren es Weise, Gerechte, Eingeweihte, Meister, die den Gang der Welt in positiver Richtung gehalten oder ge­steuert haben, dadurch, dass sie mit der Welt der Intuitionen in Kommunion waren. Ob sie zehn in einer Stadt waren oder sein sollten wie in Sodoma, ob sie sechsunddreißig oder zwölf oder viermal zwölf auf Erden sein müssten, mag dahin gestellt sein. Ich weiß nicht, ob diese Meister heute auf Erden ihre Wirksamkeit entfalten. Vielleicht wäre die Finsternis noch größer ohne ihre Arbeit. Aber es könnte auch sein, dass sie nicht da sind.
Wenn sie nicht da sind, die Großen, müssen es die Nicht-Großen tun. Wenn sie da sind, wird es auch nicht schaden. Ich bin kein Meister, kein Gerechter. Aber ich schlage vor, dass wir es tun, das Einzige, was man tun kann, um Zukunftskeime zu setzen: das Medit­ieren für die Zukunft, für die essentielle – nicht nur zeitliche – Zu­kunft. Oder wenigstens: dass wir es versuchen, in unserer Schwach­heit.
Es mag dies überflüssig sein oder auch unwirksam: schaden wird es nicht, wenn es getan wird in der Bewusstheit,
dass aus diesem Tun dem Tuenden nichts Gutes, eher Last und vielleicht «ungünstiges» irdisches Schicksal zukommt;
dass es nicht aus Überheblichkeit, sondern aus Bedrängnis ge­schieht, aus Traurigkeit;
dass es keiner Organisation bedarf, keiner «geheimen» Gesellschaft;
dass es nicht wichtig ist für die, die es tun, einander kennenzu­lernen, an einem Zeichen etwa; sie werden sich erkennen, wenn ihr Tun Wirklichkeit wird;
dass dieses Tun keine vorausgenommene «Wichtigkeit» hat, dass jeder Gedanke an solche Wichtigkeit das Tun verunmöglicht;
dass alles im tiefsten Sinne ungewiss ist; dass dies ein Versuch ist, nur die Richtung zum Untergang zu wenden: ein schwacher Versuch.
Man kann lange gegen eine solche Unternehmung argumentieren: ich verzichte auf Gegenargumente. Ich habe keine andere Berufen­heit zu diesem Vorschlag, als dass es mir in den Sinn gekommen ist, dass ich ihn mache, und dass ich sicher bin: schaden wird es nicht.
Die Unternehmung ist nicht verratbar, weil sie kein Geheimnis ist.
Als Thema der Meditation schlage ich die zwei letzten Kapitel, 21. und 22., der Apokalypse Johanni vor, weil diese essentiell die Zukunft der Erde beschwören. Ich «verstehe» diese Kapitel keineswegs ganz; das Verstehen aber kann durch die wiederholte Meditation reifen. Man nehme Tag für Tag einige Verse, später vielleicht ein ganzes Kapitel. Der Zeitpunkt der Meditation soll von dem Meditierenden gewählt werden: das Verbindende ist nicht die irdische Zeit, sondern die reine Absicht.
Wenn Du jemanden kennst, den Du für solches Tun geeignet denkst, gib ihm diesen Brief weiter. Wenn jemand dieses Tun als gerechtfertigt findet, aber nicht meditieren kann, der bemühe sich, das Meditieren zu erlernen: er wird die Mittel finden, wenn er sie sucht. Der Brief soll von Mensch zu Mensch weitergereicht werden.
Dieses Tun kann eine Arbeit der Diener des Logos genannt werden. Nach außen soll davon nichts bemerkbar sein. Vergiss nicht die Macht, die im Zusammenklang des worthaften menschlichen Tuns liegt: «Wenn zwei von euch auf Erden in allem ihrem Tun zusammenklingen, was sie auch bitten, es wird ihnen von meinem Vater im Himmel.» (Mt 18, 19).
Göttingen, Ende 1979, G. Kühlewind


de profundis clamavi ad te Domine (aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir). Anfang des 130. Psalms.