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Pascal Dusapin

Grell, dunkel, geheimnisvoll

von Thomas Neuerer

Nr 173 | Mai 2014

Der französische Komponist Pascal Dusapin (Jahrgang 1955) ist hierzulande kaum bekannt und in den Konzertprogrammen unterrepräsentiert. Das ist insofern verwunderlich, da seine Werke für einen zeitgenössischen Komponisten vergleichsweise zugänglich und ausgesprochen farbenreich sind. Eine gewisse Rolle dürfte dabei spielen, dass Dusapins Partituren recht hohe Anforderungen an die ausführenden Musiker stellen, während die Zuhörer sich durch musikalische Momente von Spannung und Entspannung, Klangverdichtung und Auflösung betören lassen können.
Dusapins Werke, insbesondere seine «Soli» für Orchester, um­kreisen oft ein schmales Tonspektrum in vielerlei Varianten, wobei der Komponist auf einen musikalischen Formenkanon, wie er aus traditionellen symphonischen Sätzen geläufig ist, verzichtet.
Auf dem soeben bei Deutsche Grammophon erschienenen Album sind die zwei jüngsten der «Soli» Dusapins vertreten, No. 6, Reverso (Uraufführung 2007 in Berlin unter Simon Rattle), und No. 7, Uncut. Zentrales Werk des neuen Albums ist jedoch Morning in Long Island, ein Orchesterkonzert. Der Titel weist auf ein konkretes Programm; nämlich die musikalische Verarbeitung persönlicher Eindrücke, die Dusapin, wie er selbst im Beiheft erläutert, an einem Vormittag auf Long Island gewonnen hat: Das besondere Sonnenlicht des frühen Morgens, Geräusche sich brechender Wellen, von kreisenden Vogelschwärmen, der Salz­geruch des Sands, die Girlanden angeschwemmter Riesenalgen.
Nicht von ungefähr fühlt man sich an Debussy erinnert, der rund hundert Jahre früher mit La Mer ein vergleichbares Sujet musikalisch zelebriert hat. Aber auch Charles Ives kommt einem in den Sinn; so könnte beispielsweise Central Park in the Dark durchaus Pate gestanden haben, wenn Dusapin schemenhaft Rhythmen und melodische Fragmente wie von fern aufscheinen und wieder verschwinden lässt.
Wie bei Charles Ives und Claude Debussy darf man sich bei Dusapin ein Tongemälde erwarten, das allerdings nicht dem Schönklang huldigt, sondern ganz Ausdruck ist. Ist bei Debussy und Ives aber noch ein chronologischer Ablauf nachvollziehbar, so macht Dusapins Komposition einen deutlich statischeren Eindruck. Es erscheint mehr eine Bildbetrachtung zu sein, bei der die Konzentration auf wechselnde Details gelenkt wird.
Immer wieder nah bei Dusapin ist übrigens auch Iannis Xenakis, Mentor des Franzosen und einer der Granden der musikalischen Moderne nach 1945, auch wenn Dusapin nicht die formale Entschiedenheit eines Xenakis hat, sondern durchaus auf Wirkung bedacht ist und mit üppigen Orchesterbesetzungen aus dem Vollen schöpft.
Dusapin gestaltet sehr frei und nutzt auch gerne mikro­tonale Muster, mit denen er der Festlegung auf eine Tonart entgeht. Lässt man sich auf das Hörabenteuer mit Klang­rauschpotenzial ein, ist einem mit dieser CD eine genussreiche gute Stunde gewiss, die zum Entdecken weiterer Werke Dusapins einlädt.
Den anspruchsvollen Partituren Dusapins widmen sich auf der aktuellen CD der Dirigent Myung-Whun Chung und das Orchestre Philharmonique de Radio France mit viel Engagement und großer Virtuosität und unter Beratung des Komponisten. Wer sich neue Hörwelten erschließen will, dem sei das Album ans Herz gelegt.