Lorenzo Ravagli

Anfang und Ende der Philosophie

Nr 173 | Mai 2014

Alles ist irgendwie in Entwicklung begriffen. Aber nehmen wir diesen Gedanken wirklich ernst genug? Rudolf Steiner jedenfalls unterzog in seinem 1914 erschienenen Buch Die Rätsel der Philosophie die gesamte Geschichte des abendländischen Denkens einer radikal evolutionären Interpretation. Zwar hatte der Entwicklungsgedanke schon vor ihm Einzug in die Philosophie gehalten, aber diese war seit der Aufklärung von der Vorstellung beherrscht, sie sei so etwas wie die höchste Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes. Ihre Geschichte erschien als Schauplatz eines jahrtausendelangen Kampfes der Vernunft mit dem Aberglauben, in dem die Erstere schließlich den Sieg davontrug.

Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel war die Philosophie die höchste Erscheinungsform des absoluten Geistes, und damit eigentlich das Ende der Geschichte. Dass der absolute Geist in Hegels eigenem Denken zu sich selbst kam, erschien ihm als logische und historische Notwendigkeit. Schon damals fragten sich manche, die nicht an das Ende der Geschichte oder an Hegel glaubten, ob der «absolute Geist» nach der Vollendung der Philosophie nicht auch noch andere Erscheinungsformen annehmen könnte. Einige meinten, die Philosophie werde in eine neue Mythologie oder eine neue Form der Religion übergehen.

Die Naturwissenschaften legten im weiteren Verlauf des 19. Jahr­hunderts Hegels verstiegene Ansprüche ad acta und beerbten sie gleichzeitig: die höchste Form des Wissens sollte nun nicht mehr die Philosophie, sondern die empirische Naturwissenschaft darstellen. Während Hegel den «abstrakten Begriff» zum Götzen erhob, stellte die Naturwissenschaft die «empirischen Daten» aufs Podest. Erst in jüngster Zeit beginnt sich aufgrund der Arbeit französischer Denker eine neue Entwicklung abzuzeichnen: die Wissenschaftsgeschichte betrachtet die empirische Naturwissenschaft oder auch die Philo­sophie als eine von vielen möglichen Bewusstseinsformen. Künstlerische, religiöse und mythische Weltbilder werden reha­bilitiert und der Weg in die Zukunft ist wieder offen.
Im Grunde genommen hat Steiner in seinen Rätseln der Philosophie diese Entwicklung vorausgenommen und erweist sich heute auch auf diesem Gebiet als Pionier. Für Steiner ist die Philosophie ein geschichtliches Phänomen: sie ist entstanden, und alles, was entsteht, muss irgendwann wieder vergehen. Aber während manche Autoren gegenwärtig unter dem Einfluss der französischen Skeptiker den Sinn der abendländischen Denkentwicklung anzweifeln und die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt in Frage stellen, lenkt Steiner den Blick auf einen anderen Sachverhalt. In gewisser Weise stellen auch für ihn Philosophie und Wissenschaft eine Konstruktion dar. Diese Konstruktion ist aber nicht das Ergebnis historischer Zufälle oder gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern Ausdruck eines notwendigen anthropologischen Tat­bestandes.
Die Geschichte der Philosophie ist nämlich die Biografie des menschlichen Selbstbewusstseins. Was wir heute als selbstverständlich betrachten: dass wir die Erzeuger und Gestalter unserer Ge­danken sind, dass ein «Ich» sich im Denken betätigt und durch dieses Denken sich selbst erkennt, ist das Ergebnis einer jahrtausendelangen Ent­wicklung – und es ist nicht das Endstadium dieser Ent­wicklung. Dieses «Ich» des Menschen, das sich heute als Zen­trum seiner Welt betrachtet, als Persönlichkeit, der unzählige andere Persön­lichkeiten gegenüberstehen, musste sich Schritt für Schritt von den göttlichen Mächten, die in Leib und Seele des Menschen wirkten, emanzi­pieren, um schließlich im Denken zu sich selbst zu kommen.

Vier Epochen sind laut Steiner in dieser Entwicklung erkennbar. Die erste ist die des erwachenden Gedankenlebens im alten Grie­chen­­land. Erstmals tritt im Bewusstsein der Väter der Philosophie der Gedanke, der reine Begriff, als geschichtliches Phänomen in Erscheinung. Als objektiver Weltinhalt strömt er in die Seele des Menschen ein und vermittelt dieser ein lebendiges Ideenbild der Welt. Das Erleben von Gedanken verdrängt einen früheren, mythischen Bewusstseinszustand, der noch nicht zwischen Innenwelt und Außenwelt unterschied und die schaffenden Mächte des Kosmos durch Sinnbilder und Symbole unmittelbar anzuschauen vermochte. In der Zeit Homers erlebten die Griechen ihre Seelenregungen oder Vorstellungen noch als unmittelbare Offenbarung göttlicher Mächte: Ares gab ihnen den Zorn, Athene kluge Einfälle. Kein homerischer Grieche wäre auf die Idee gekommen, von seinem Zorn oder seinen Gedanken zu sprechen. Diese mythische Einheit des Menschen mit der Welt beginnt nun auseinanderzubrechen. Gerade erst entstanden, tritt die Philosophie in kaum zu über­treffender Vollendung in Plato oder Aristoteles in Erscheinung (7. Jahrhundert v. Chr. bis zum Beginn unserer Zeitrechnung).

Die zweite Epoche ist die des erwachenden Selbstbewusstseins. Die Seele beginnt sich nun selbst als die Erzeugerin der Gedanken zu empfinden, aber gleichzeitig wird diese Empfindung von der gewaltigen Weisheitsinspiration der (christlichen) Offenbarung überstrahlt. Der Glaube an die offenbarte Weisheit gibt dem aufkeimenden selbstständigen Denken Inhalt und Sicherheit. Das erwachende Selbstbe­wusstsein stellt sein Denken in den Dienst der Offenbarung. Der Glaube mit seinen Gedankeninhalten ankert in den tiefsten Empfindungen der Seele und diese prägt dem Denken ihre Frömmigkeit auf (Beginn unserer Zeitrechnung bis ins 9. Jahrhundert).
Erst die dritte Epoche ist die der individuellen Aneignung des Gedankenlebens. Allmählich verblasst die Kraft der Inspiration und das Erlebnis der eigenen Denktätigkeit tritt in den Vordergrund. Nun zieht das Bewusstsein des Ich in die Seele ein und dämpft die Lebendigkeit des Gedankens ab. Dieser Sterbe­prozess des lebendigen Gedankens spiegelt sich in den dramatischen Kontroversen über den Gottes­beweis, im Streit darüber, ob Ideen Urbilder der irdischen Realität oder nur Abbilder der Sinneswelt oder menschliche Erfindungen sind (9. bis 16. Jahrhundert).
Die vierte Epoche ist die des erwachten Selbstbewusstseins. Das Ich des Menschen wird dem Gedanken gegenüber vollkommen frei und erlebt sich klar als dessen Erzeuger. Spektakulär kommt dieses neue Lebensgefühl in der Formel «Ich denke, also bin» von Descartes zum Ausdruck. Der Gedankengehalt der Welt ist jetzt ganz in die selbstbewusste denkende Seele eingezogen. Dadurch verändert sich auch die Natur und das Verhältnis des Menschen zu ihr. Erstere erscheint dem Menschen nun vollkommen gedankenleer. Erst jetzt entsteht die Frage, wie die Wahrnehmung eines geistentleerten Kosmos mit den Tatsachen des Denkens vereinbar ist, die im Inneren der Seele erlebt werden (16. Jahrhundert bis über die Gegenwart hinaus).

Aber alles, was entstanden ist, muss auch wieder vergehen. Daher schließt Steiner an die Rätsel der Philosophie den Ausblick auf eine Epoche der Versöhnung von geistentleerter Natur und denkender Seele an. Das philosophische Denken wird in ein neues, vom Selbstbewusstsein errungenes Bilderbewusstsein übergehen. Es muss sich mit der Ima­gination erfüllen, die wieder eine unmittelbare Anschauung der schaffenden Mächte der Natur ermöglicht. Die Sinnbilder und Symbole, die einst vom Menschen aus der Welt empfangen worden sind, werden dann so von ihm hervorgebracht, wie die Gedanken. In diesem selbstbewussten Bilder­bewusst­sein nimmt die Weisheit der Welt, die im abstrakten Gedanken erstorben ist, eine neue Gestalt an – der Rudolf Steiner im Ausblick den Namen Anthroposophie gab.