Claus-Peter Lieckfeld

Das Weltdorf am Moor

Nr 178 | Oktober 2014

Vielleicht ist es nicht schlecht, am Ende an den Anfang zu setzen. Hans am Ende hieß der Mann, der am letzten Tag des Jahres 1864 in Trier geboren wurde und gegen Ende des Ersten Weltkriegs in Stettin starb – an den Folgen einer Kriegsverletzung.
Wenn man in Worpswede, dem Ort mit dem größten Nachhall einer Künstlerkolonie auf deutschem Boden, einfach mal den berühmten Barkenhoff Heinrich Vogelers rechts liegen lässt und sich dem angrenzenden Haus zuwendet, ist man richtig: Hier steht, nur leicht überbaut, das Haus, in dem Hans am Ende seine leuchtenden Moorlandschaften schuf. Heute bietet hier ein Romantikhotel kuschelige Viersterne-Gastlichkeit. Und es bietet zusätzlich noch an jeder freien Wand Stiche, Zeichnungen, viele Radierungen und einige Ölgemälde des Mannes, der meistens vergessen wird, wenn die großen Worpsweder Namen fallen: Mackensen, Overbeck, Moder­sohn, Hoetger, Vogeler.

Vergessen?

Vergessen, obwohl Hans am Ende neben Fritz Mackensen der eigentliche Begründer der Künstlerkolonie war: jenes dörflichen Moor-Arkadiens, dem Rainer Maria Rilke – Teilzeit-Worpsweder kurz nach der Jahrhundertwende – ein literarisches Denkmal setzte und dem er seine Frau, die Malerin und Bildhauerin Clara Westhoff, abgewann.
Wenn man Glück und wenn er Zeit hat, zeigt einem Jochen Semken, Besitzer des ehemaligen Ende-Hauses und jetzigen Hotel Buchenhof, den Treppenaufgang mit einem besonders großformatigen Ende-Bild. Über einer offenen niederdeutschen Landschaft – lichtdurchflutet, wie immer bei Hans am Ende – wölbt sich ein Regenbogen, der jahrzehntelang verschwunden war, und der dann wieder erstrahlte. – Das klingt zu mystisch, als dass man es unerklärt lassen dürfte: Ein Kunstfreund, der als Kind häufig im Ende’schen Malerhaus zur Sommerfrische weilte und dort exakt dieses Bild gesehen hatte, fand es im reifen Mannesalter wieder: im Privatbesitz eines Sammlers. Aber etwas stimmte nicht. Irgendwer hatte den Regen­bogen übermalt oder übermalen lassen. Warum auch immer.
Das Werk hängt heute fast wieder am alten Ort – mit dem restaurierten, halben Farbtorbogen, dem Heilsversprechen, das Wolken­himmel und Erde verbindet.
Das wiedergefundene Licht – inklusive Zwielicht! – hätte auch das Motto der Großausstellung sein können, die Worpswede 2014 anlässlich des 125. Gründungsjubiliäums in mehreren örtlichen Galerien ausrichtete.
Da sind – um gleich zum Zwielicht zu kommen – die magisch braunen Moorbilder des Fritz Mackensen, der das Dorf nahe Bremen anfangs fast im Alleingang auf die Weltkarte der Malerei pinselte, um rund drei Jahrzehnte später Worpswede in den braunen Sumpf zu stoßen: Mackensen wurde zum örtlichen Kunst-Block­wart und Vollstrecker der herrschenden Nazi-Ästhetik.
Aber natürlich – der hervorragende Katalog Mythos und Moderne. 125 Jahre Künstlerkolonie Worpswede* legt auch davon Zeugnis ab – gab es von Anfang an und über die Jahre hinweg viel Licht.
Da war, wenngleich nur kurz, ein sehr heller Schein am Maler­himmel des frühen zwanzigsten Jahrhunderts: Paula Modersohn–Becker, die, wie sie vielfach beteuerte, das Moor liebte, aber es nie zur Kulisse für Inszenierungen machte. So wie bisweilen ihr Mann, Otto Modersohn («Ich will ein Stimmungsmaler von naturalistischer Kraft und Tiefe werden», 1898), dessen Moormenschen nicht von dieser Welt waren, offenbar keinen Hunger litten, keine von Arbeit verkrümmte Rücken und keine rachitisch deformierten Beine hatten, keine Lungenentzündung auf den Tod, keine Hungerödeme unter der Haut. Die Realität der Torfbauern kam bei Modersohn nicht vor.
Ganz anders bei Paula Modersohn-Becker, sie übermalte die Realiäten nicht, sie durchdrang und verdichtete sie. Die junge Frau, die immer wieder längere Fluchten von Worpswede nach Paris antrat – Fluchten wohl auch vor den schwachsichtigen Schmäh-Kritikern aus Bremen – lebte und arbeitete zeitweilig im Brünjeshof. Der steht noch heute so da, dass ihn die Künstlerin wieder­erkennen könnte. Und auch ihr Atelier würde sie wohl nach kurzer Irritation – ein Brand hinterließ 1944 irreversible Spuren – wiederfinden. Da sind noch die hohen, ins Strohdach eingelassenen Fenster. Der Besucher dieser Tage erkennt, mit etwas Hilfe durch den heutigen Hausherrn, auch noch den ehemaligen Verlauf der Wand, hinter der Paula ihre Bilder versteckte: Damit die Verächter ihrer gemalten Seelenanalysen sie nicht finden konnten. Und natürlich ist da noch der Blick aus der Kammer in den hohen Worpsweder Himmel, den der Maler Fritz Overbeck so sehr vergötterte und mit dem Pinsel vergöttlichte.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de) Durch die Bildgalerie geht's per Klick auf die Klammern

Träumen und Erwachen im Emazipationszimmer

Man kann Paulas Zimmer heute mieten und bewohnen, kann dort sitzen, wo sie saß und malte und kann hier – das wäre übrigens meine Empfehlung! – den ungemein witzigen Worpswede-Roman von Moritz Rinke, Der Mann, der aus dem Jahrhundert fiel** lesen, in dem von einem «Paula-Emanzipationszimmer» die Rede ist, welches der romanesk-schrullige Besitzer nicht zur Be­sich­tigung freigeben will.
Das echte Paula-Arbeitszimmer steht, wie gesagt, zahlenden Gästen offen. Und Vermieter und Landschaftsgärtner Philipp Uphoff – Enkel des Vogeler-Freundes Carl Emil Uphoff – erklärt seinen Gästen auf Anfrage nicht nur den Raum, sondern auch so einiges über das Gestern und Heute der Worpsweder Künstlerlandschaft.
Das Gestern ist in Worpswede immer noch das Heute, denn der Ort lebt von gerahmten und aufgestellten Zeugnissen großer Mal- und Skulpteurs-Kunst, beziehungsweise vom zahlenden Publikum, von den Kulturtouristen, die sommers den Ort überfluten.
Besucher, die dann doch nicht alles über Deutschlands berühmteste Künstlerkolonie erfahren. Schon gar nicht Details wie dieses: Ohne Philipp Uphoffs Großvater, Carl Emil Uphoff, wäre das Haupt- und Glanzlicht «der Worpsweder», wäre Heinrich Vogeler nicht hierher gekommen. Großvater Uphoff war in jungen Jahren, zeitgleich mit Heinrich Vogeler, Schüler an der Pariser Malschule des großen Henri Matisse. «Ich zeig dir mal was …», soll Carl Emil seinem Freund Heinrich gesagt haben. Heinrich horchte auf, reiste mit Freund Carl Emil in dessen Heimat an den Rand des Teufelsmoors und blieb, malte seine phantasmagorischen Märchenbilder, schuf Illustrationen in so ziemlichen allen gängigen Techniken und Formaten, machte seinen Barkenhoff zum Epizentrum des Worpsweder Kunst-Bebens, streifte den Jugendstil und streifte ihn wieder ab, entwickelte ein geniales Sitzmöbel, das noch heute seinen Namen trägt, driftete irgendwann in Stalins Russland ab, näherte sich mit Komplexbildern – jenen pompösen Altarbildern des Marxismus/Leninismus – dem Sozialistischen Realismus an, wurde dafür im Reich Stalins nicht geliebt, starb 1942 an Entkräftung als Zwangs­arbeiter in Kasachstan …
… und lebt. Lebt fort als Übergröße unter «den Worpswedern». Sein Andenken wird vor Ort von Nachfahren, Enkeln und Urenkeln im Barkenhoff gepflegt, archiviert, lebendig gehalten. Die Kunstgeschichte würdigt den «bunten Vogel(er)» und weiß nicht so recht, in welche Voliere sie ihn setzen soll: eine jungendstilig umrankte, eine expressionistisch schräge, eine kubistisch verwinkelte …? Otto-Normal-Betrachter hat es da leichter und darf einfach nur naiv staunen ob so vieler Mausern … und muss nicht wissen warum.

Seelenserien

Und den Besucher befällt hemmungsloses Staunen spätestens dann, wenn er die zweite überragende Worpswede-Gestalt betrachtet: Paula Modersohn-Becker, die in ihrem kurzen Leben – sie starb mit nur 31 im November 1907 kurz nach der Geburt ihrer Tochter – die Moor-, Wald-, Wiesen- und Wolkenhimmel-Ästhetik ihres Mannes und liebevollen Förderers, Otto Modersohn, hinter sich ließ und Portraits schuf, die sich auf der Netzhaut einbrennen: Tiefenbilder. Seelen-Serien. Ergreifend.
Landschaftsgärtner Philipp Uphoff (der, bei dem man das ehe­malige Paula-Atelier als Ferienwohnung mieten kann) wird irgend­wann unruhig, wenn man länger, oder womöglich zu lange, mit ihm über die großen Namen des frühen 20. Jahrhunderts spricht. Nein, er hat kein Problem damit, zu erklären, dass sein Großvater (der Künstler Carl Emil Uphoff, der Vogeler-Freund und Atelier-Vermieter), von weit links außen zu den Nazis abschwenkte, die zwar seine Gesinnung, nicht aber seine Kunst schätzten.
Enkel Uphoff grämt sich mehr über das Heute: «Worpswede sollte nicht nur Museum sein! Hier muss auch Kunst der Gegenwart leben. Davon spürt man zu wenig. Trotz der über hundert Künstler, die hier noch leben und schaffen …», meint er und bedauert, dass Worpswede seit etlichen Jahren nicht mehr Schaffens- und Lernort für staatlich geförderte Kunststipendiaten ist. Die werden heute, warum auch immer, vom niedersächsischen Kultusministerium nach Braunschweig dirigiert.
Die Jungen, ob nun wild oder nur schrill, fehlten, sagt Philipp Uphoff, und steht damit nicht allein: Junge Künstler brechen auf, und das «geschieht derzeit kaum in Worpswede».
Das sehen allerdings nicht alle so trist. Jochen Semken zum Beispiel (der mit dem Romantik-Hotel im ehemaligen Hans am Ende-Haus) begeistert sich an den Ergebnissen eines Wettbewerbs zur 125-Jahrfeier: «Künstler gestalten Worpswede-Fahnen». Und er verweist darauf, dass der kleine Ort «übers Jahr mehr Musik- als Malerei-Veranstaltungen zu bieten» hat. In der Music Hall – «mal ehrlich, welches Dorf hat schon so was!» – treten Klezmer-Weltstars wie Giora Feidmann auf oder Rock-Legenden wie Eric Burdon. «Und an den vielen Tresen im Dorf gibt es eine gute Streit- und Schlichtungs-Kultur … ich sehe Worpswede keineswegs am Ende.»
A propos am Ende. Vielleicht ist der wiedergefundene Regen­bogen, den Semken im ehemaligen Am Ende-Haus hütet, ja doch ein gutes Vorzeichen. – Worpswede und kein Ende.