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Denys Watkins-Pitchford

Nr 178 | Oktober 2014

Das Leben in der beseelten Natur

Wenn ein Mensch sich am liebsten Tag und Nacht in der Natur aufhalten würde und dennoch ein Lebenswerk von fast sechzig Büchern hinterlässt, liegt der Schluss nahe, dass die Natur, dass Wälder, Flüsse und ihre Bewohner in diesen Büchern einen großen Raum einnehmen.
Es sind vor allem die Wälder seiner Heimat Northampton, die Denys Watkins-Pitchford als Wanderer wie als Jäger durchstreifte. Neben dem Angeln war die Vogeljagd seine zweite Leidenschaft – beides Beschäftigungen, die es mit sich bringen, viel Zeit allein und in aller Stille zu verbringen.
Mit zweiundzwanzig Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch, The Countryman’s Bedside Book – Das Nachttisch-Buch für den Land­bewohner. Da ihm sein Familienname zu lang erschien, wählte er das Pseudonym «BB», die Bezeichnung eines Bleischrots, das er vorwiegend für die Jagd auf Vögel verwendete.
Dem ersten Buch sollten weitere über das Jagen und Angeln folgen, und Titel wie Bekenntnisse eines Karpfen-Fischers oder Das Nachttisch-Buch für den Jäger weisen darauf hin, dass es sich hierbei nicht um trockene Fachliteratur handelt, die im besten Fall eine Handvoll Spezialisten interessiert. Jedes seiner Bücher beinhaltet die Früchte der langen kontemplativen Stunden in der Natur.
War er nicht in den Wäldern, schrieb, malte und zeichnete er. Nach einigen Jahren als Kunstlehrer ließ er sich auf das Wagnis ein, von seinen Büchern zu leben, was ihm auch gelingen sollte.
Allem voran verdankte er dies seinem größten literarischen Erfolg, Die Wichtelreise. 1942 erhielt er mit erst 36 Jahren für dieses Buch die «Carnegie-Medal» für das beste britische Kinderbuch des Jahres.
Wie in vielen seiner anderen Bücher lässt er hier seine Leser auf unnachahmliche Weise in die von Menschen noch weitgehend unberührten Wälder seiner Heimat eintauchen. Man begleitet drei Wichtel bei dem Versuch, ihren Bruder zu finden, der vor mehr als einem Jahr von einer Wanderung nicht zurückgekehrt ist.
Er nannte sein Buch «eine Geschichte für im Herzen jung Gebliebene», und wie in allen seinen Werken für jüngere Leser verrät «BB» hier viel über seine eigene Kindheit. Beispielsweise haben die Wichtel eine Begegnung mit einem Jungen, der sie von einer Brücke aus beobachtet. Als er am Abend seinem Vater davon erzählt, wird seiner Geschichte selbstverständlich kein Glauben geschenkt. Ähnlich ging es Watkins-Pitchford selbst, der sich sein Leben lang nicht davon abbringen ließ, im Alter von vier Jahren in seinem Kinderzimmer unter dem Dach des Hauses einen Zwerg gesehen zu haben.
Fortan empfand er die Natur auf besondere Weise als beseelt und fühlte sich in ihr geborgen, was erklären mag, warum es ihm gelang, in seinen Büchern eine so atmosphärische Dichte zu erzeugen.
«Dies ist eine Geschichte über die letzten Wichtel Englands. Es handelt sich um waschechte Wichtel, nicht um die kindlichen Kitsch-Gebilde, die viele Kinder aus ihren Märchenbüchern kennen. Die, die ich meine, leben vom Jagen und Fischen, wie die Vögel und anderen Tiere, wie es sich für sie gehört», schreibt er im Vorwort des Buches, das ihn berühmt gemacht hat. – Und allen seinen Büchern stellte er als Motto einen Spruch voran, den sein Vater auf einem alten Grabstein gefunden hatte:

Das Wunder der Welt,
ihre Schönheit und Kraft,
die Formen der Dinge, ihre Farben,
ihre Lichter und Schatten;
ich habe sie gesehen.
Schaue auch du nach ihnen,
solange das Leben dauert.

von Michael Stehle