Krzysztof Penderecki im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Am Anfang war die Form

Nr 181 | Januar 2015

Wir alle tragen Wünsche und Träume in uns – manche davon werden Wirklichkeit, viele bleiben unerfüllt. Für Krzysztof Penderecki, einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit, dessen Werke weltweit aufgeführt, gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet wurden und werden, sind durch seinen unbändigen Willen und seine visionären Ideen ihm wesentliche Wünsche klangvolle Wirklichkeit geworden: So hat er u.a. rund 70 Kilometer von Krakau entfernt mit seiner liebenswerten und herzenswarmen Frau Elzbieta ein Refugium zum Arbeiten und Leben und für die Musik einen außergewöhnlichen Ort der Zukunft geschaffen.

Maria A. Kafitz | Herr Penderecki, wie schön, dass wir uns hier in Luslawice treffen können – diesem kleinen Ort, der mehrfache Bedeutung für Sie hat. Was ist das Besondere hier?
Krzysztof Penderecki | Ich hatte so eine Idee und habe hier 1974 ein Herrenhaus gekauft, eine Ruine, und sofort angefangen, sie wieder herzurichten. Ich hatte vor, meinen eigenen Park, mein Arboretum zu pflanzen. Und das habe ich getan. In diesen vierzig Jahren, die ich dafür brauchte, habe ich eine große botanische Sammlung zusammengestellt und auf jetzt fast 30 Hektar gepflanzt. Es ist eine Kollektion von Bäumen, bestimmt die größte private Kollektion in diesem Teil Europas. Bäume interessieren mich sehr. Und ich bin ein Sammler. Ich habe schon als Student angefangen, alte Möbel, Bilder, alles Mögliche zu sammeln.

MAK | Ein Park ist ja gestaltete Natur. Man pflanzt nicht aus und lässt einfach wachsen, sondern man gibt allem eine Form.
KP | So ist es. So wie man eine Sinfonie schreibt, muss auch ein Park eine Form haben. Ich habe Pläne gemacht für die ganze Fläche – zuerst waren es 3,5 Hektar – und ich habe Schritt für Schritt versucht, sie zu erweitern und zu bepflanzen. Das heißt, ich habe auf Grundstücken geplant, die noch nicht mir gehörten. Und dann musste ich das alles kaufen. Jetzt habe ich hier Ruhe gefunden. Wenn ich hier bin, bin ich nur mit meinen Pflanzen beschäftigt und mit Musik. Das brauchte ich auch – die Ruhe und das Ge­fühl, dass alles, was hier ist, von mir geschaffen wurde.

MAK | Betrachtet man die Fülle Ihrer Kompositionen, scheinen Sie unentwegt schöpferisch zu sein. Denken und arbeiten Sie an mehreren Werken gleichzeitig?
KP | Ja, ich beginne drei, vier Stücke gleichzeitig, aber später konzentriere ich mich natürlich auf ein Stück. Ich habe vielleicht zu viele Ideen. Deswegen muss ich zur gleichen Zeit an mehreren Werken arbeiten, und das macht mir auch Spaß. Vor allem: Die Werke, die ich schreibe, sind verschieden, sind nicht ähnlich.

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Fotos: © Sebastian Hoch | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | Es kann also Kammermusik parallel zu einer Oper entstehen?
KP | Sehr gut sogar. Das heißt, wenn man ein größeres Stück schreibt, eine Oper oder ein Oratorium oder eine Sinfonie, hat man natürlich verschiedene Ideen, und aus diesen Ideen entsteht dann Kammermusik. Sehr oft ist es so, dass etwas, das ich nicht in meiner Sinfonie verwende, später ein Kammerwerk wird. Denn wissen Sie, Musik ist für mich eigentlich sehr leicht. Das heißt, Musik zu schreiben ist für mich spielerisch und unterhaltsam. Alles beginnt mit Formen. Ich denke in ganzen Stücken. Ich habe eine Idee, versuche zu verstehen, wie das ganze Stück, wie die Architektur wird, und dann fülle ich nur die Noten aus. Ich bin kein Komponist, der mit größter Mühe versucht, etwas aus sich herauszubringen. Ich stehe auf und schreibe.

MAK | Sie komponieren schon vor dem Frühstück?
KP | Ja, das ist die beste Zeit – man ist dann frisch. Ich stehe normaler­weise um 6 Uhr auf, wenn alle noch schlafen, und beginne zu schreiben. Mich auszudrücken in der Musik ist vielleicht die einzige Möglichkeit für mich, mit der Außenwelt Kontakt zu haben. Aber es macht mir vor allem auch Spaß, sonst hätte ich nicht so viel geschrieben.

MAK | Ihre Vielseitigkeit haben Sie auch genutzt, um der politischen Enge im Polen der späten 50er-Jahre zu entkommen. Wie ist Ihnen das gelungen?
KP | Es war Folgendes: Das war 1959. Ich wollte immer reisen, wollte aus Polen ausreisen und die Welt sehen, wollte nach Darmstadt gehen (seit 1946 finden dort die «Ferienkurse für inter­nationale neue Musik» statt). Das war alles verboten. Man hatte damals überhaupt keine Möglichkeit zu reisen, einen Pass zu be­kommen war für einen jungen Studenten so gut wie ausgeschlossen. Da habe ich in einer Annonce gelesen, dass es einen neuen Wettbewerb für junge Komponisten gibt – und der erste Preis war ein Stipendium für den Westen. Ich dachte, ich muss den ersten Preis bekommen, sonst würde ich wer weiß wie viele Jahre noch warten müssen. Dann habe ich einfach drei Stücke geschrieben, stilistisch ganz verschieden, damit man nicht erkennt, dass sie von einem Komponisten sind. Und ich habe ein Stück mit der rechten Hand geschrieben, mit der linken Hand die zweite Partitur – ich bin beidhändig, sie sieht ganz anders aus. Die dritte Partitur hat ein Kollege für mich kopiert. Damals wurde alles von Hand geschrieben, es gab keinen Computer.

MAK | Und dann?
KP | Dann habe ich alle drei Preise bekommen! Der erste Preis war natürlich die Reise. Ich wollte zwar nach Deutschland, nach Darmstadt, aber als ich den Pass bekam, dachte ich, ich muss ihn doch anders nutzen. Meine Liebe war vor allem immer der Süden, war Italien. Ich bekam ein Stipendium mit 100 Dollar. Damit verbrachte ich sechs Wochen in Italien! Das ist jetzt unvorstellbar. Aber damals konnte man für zwei Dollar übernachten. Und ich bekam eine Bahn-Fahrkarte, womit ich überall in ganz Italien umherreisen konnte. Das war vielleicht die wichtigste Reise in meinem Leben.

MAK | Umso schöner, dass zumindest in Europa die Grenzen überwunden sind und Sie auch dadurch – das ist die andere besondere Bedeutung, die der Ort Lus?awice für Sie hat – ein Musikzentrum gründen konnten: das Europäische Krzysztof Penderecki Musikzentrum, das nahe Ihrem Park liegt.
KP | Das war mein Traum. Nachdem ich das Haus renoviert hatte, angefangen habe, meinen Park zu pflanzen, wollte ich noch einen Schritt weiter gehen und etwas für junge Leute tun. Und so ist auf einem Feld ein ziemlich großer Bau entstanden, insgesamt 10.000 Quadrat­meter, mit einem guten Konzertsaal und exzellenter Akustik von sehr guten Architekten aus Krakau entworfen. Mithilfe der Gelder der Europäischen Union und des Minis­teriums ist das in sehr kurzer Zeit entstanden, d.h. vom Anfang der Idee an dauerte es 14 Jahre. Fast 100 Studenten können hier nun wohnen und arbeiten, wie zum Beispiel gerade mit dem Scharoun Ensemble der Berliner Philharmoniker. Und es funktioniert fantas­tisch. Wir haben seit der Eröffnung 2013 schon über 80 Konzerte veranstaltet.

MAK | Kommen die Menschen aus der Umgebung auch zu den Konzerten?
KP | Als ich das gebaut habe, war ich etwas erschrocken und dachte: Mensch, das wird doch leer sein! Wer kommt hierher? Aber es ist eigentlich immer voll! Natürlich kommen manche Leute aus Krakau, es gibt ein paar größere Städte in der Nähe, Tarnów zum Beispiel, aber die Leute von hier kommen auch, die früher nie in einem Konzert waren. Und noch etwas: Fünf oder sechs Kilometer entfernt gibt es ein Dorf, da gab es eine Musikschule mit vielleicht 30 Schülern. Heute sind es 300 Schüler!

MAK | Sie haben schon beim Eröffnungskonzert nicht nur auf Größen wie Anne-Sophie Mutter, sondern zudem auf die Jugend gesetzt.
KP | Ja, wir haben durch einen Wettbewerb in ganz Polen ein Kinderorchester zusammengestellt. Das waren Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren. Sie haben nicht lange gearbeitet, nur etwa zweieinhalb Wochen, und dann bei der Eröffnung gespielt. Fantastisch gespielt!

MAK | Musik hat auch Sie schon als Kind begleitet, Sie haben früh Geige und Klavier gelernt. Gab es trotzdem den Moment, dass der kleine Krzysztof beispielsweise Feuerwehrmann werden wollte?
KP | Diese verrückte Idee hatte ich als ganz kleines Kind natürlich. Ich wollte Matrose werden. Aber dann, nachdem ich angefangen habe Geige, zu spielen und sofort zu komponieren – denn nach zwei oder drei Wochen habe ich bereits versucht, meine eigene Musik zu notieren –, da war ich schon sicher, dass ich doch Musiker werde.

MAK | Wie nähern Sie sich einem Stück, einem Motiv an? Sie scheuen ja nicht davor zurück, schwere Themen aufzugreifen wie etwa in Threnos, das den Opfern von Hiroshima gewidmet ist.
KP | Wissen Sie, wenn man einen Krieg erlebt hat … Ich habe es noch gut in Erinnerung, ich war sechs, als der Krieg 1939 angefangen hat. Zuerst einmal fünf Jahre Krieg und dann die russische Dominierung in den nächsten 40 Jahren. Wäre ich in Neuseeland geboren, hätte ich ganz bestimmt kein Requiem geschrieben. Auch in meiner Familie sind viele Leute während des Krieges gefallen. Es war auch ein Bedürfnis für mich, dass ich diese Themen berühre. Neben Hiroshima ist natürlich das Polnische Requiem das wichtigste Werk.

MAK | Es gibt Künstler und Dirigenten wie Daniel Barenboim, die daran glauben, mit Kunst, mit Musik versöhnen zu können. Was denken Sie, liegt in der Kunst eine heilende Kraft oder hilft sie nur über den Moment hinweg?
KP | Ich war sehr idealistisch, früher. Ich dachte auch, mit Kunst kann man die Leute «verbessern». Ich glaube das jetzt nicht mehr so. Aber die Themen – damit habe ich schon früh angefangen, zum Beispiel in der Lukas-Passion, die auch für die Opfer des Krieges geschrieben ist –, die machen etwas mit den Menschen. Versöhnen? Ich versuche das. Aber so sicher bin ich nicht. Vielleicht bin ich nicht mehr so idealistisch wie früher. Man kann es aber versuchen.

MAK | Sie waren viel in der Welt unterwegs, wollten Sie nie woanders Wurzeln schlagen?
KP | Ich bin sehr verbunden mit meinem Land und dieser Ecke. Wir haben in mehreren Ländern gewohnt: in Amerika sieben Jahre, in Deutschland vier Jahre, in Österreich ein Jahr, ein paar Jahre in der Schweiz. Aber dort bin ich nicht verwurzelt. Ich wollte eigentlich nie irgendwo anders leben. Ich bin auch nicht weit von hier geboren – nur 40 Kilometer entfernt im kleinen Ort Debica. Ich habe jahrelang in verschiedenen Ländern gewohnt und hatte auch eigene Häuser, habe aber nie Bäume gepflanzt, denn das war nicht meine Erde. Meine Erde ist hier.