Philip Kovce

Was heißt hier wahr

Nr 182 | Februar 2015

Vom Fragen und anderen Denkwürdigkeiten

Wer heute nach der Wahrheit fragt, gibt eine Vermisstenanzeige auf. Die Wahrheit ist verschwunden. Sie ist untergetaucht. Sie hat sich aus dem Staub gemacht. Und warum? Weil wir uns nichts mehr aus ihr machen. Die Wahrheit ist unwichtig geworden. Wichtig ist, dass es funktioniert. Bis es nicht mehr funktioniert. Dann rufen die einen bei ihrem Arzt, die anderen bei ihrer Bank an. Manche gehen in die Kirche. Und manche suchen die Wahrheit auf eigene Faust. Damit es wieder funktioniert.
Die Wahrheit ist immer dann, wenn wir sie suchen, weil wir sie brauchen, nicht zu finden. Sie ist unbrauchbar. Befehl und Ge­horsam sind ihr fremd. Sie wirkt nicht, wenn wir funktionieren oder sie funktionalisieren. Wer mit ihr handelt, macht ein Schein­geschäft. Er zerrt ans Licht, was sich dadurch nur umso mehr verbirgt. Nirgends ist die Wahrheit ferner als dort, wo sie noch hochgehalten wird. In Parteiprogrammen. In Universitäten. In Talkshows. In mir?
«Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahr­heit?», fragt der Philosoph Friedrich Nietzsche in seinen Aufzeich­nungen Jenseits von Gut und Böse. Seine Frage hat jede Brisanz eingebüßt. Gesetzt, uns ist die Wahrheit egal, dann ebenfalls die Un­wahrheit. Beide stehen miteinander im Bunde – und wir nicht mit ihnen. Wir haben mit der Wahrheit auch die Unwahrheit verloren. Wir trauern ihnen nach, wenn nicht mehr läuft, was ohne sie viel besser laufen sollte: das Leben. Das ist die eine Geschichte.
Die andere Geschichte geht wie folgt: Die Wahrheit ist nicht verschwunden und wird auch nicht vermisst. Im Gegenteil. Sie ist längst unter uns. Sie wandelt unter uns. Sie steht uns bei. Und wir? Wir stehen nicht bei ihr – sondern ohnmächtig vor ihr und neben uns, sodass wir mit ihr und mit uns nichts anzufangen wissen. Wer heute um die Wahrheit weiß, ist ganz normal. Sie gehört nicht dem Adel oder Klerus. Sie ist jedem zugänglich.
Die Wahrheit ist eine Frage des Glaubens. Nicht des Glaubens anstatt der Wahrheit, sondern des Glaubens an die Wahrheit.
Wir wissen inzwischen alles. Wir wissen, was gut und böse ist, richtig und falsch, besser und schlechter. Das sagen uns Smart­phones und Communities, Berater und Experten – und wir uns selbst. Wir kennen die Wirkungen unserer Taten – und leiden unter ihnen. Wie die Natur. Wie unsere Kinder. Wie die uns Nächsten.
Den fehlenden Glauben an die Wahrheit fängt der Dichter Fjodor Dostojewskij in dramatischen Bildern ein: Sein Großinquisitor erkennt den wiedergekehrten Heiland an dessen Taten – doch traut er seinen Augen nicht. Also setzt er Christus gefangen und fragt ihn: «Warum bist Du gekommen, uns zu stören?» Und Christus? Schweigt. – Die Wahrheit, die spricht, schweigt. Die Wahrheit, die wirkt, stört. Sie ist ein Störfall und verschlägt uns die Sprache. Das ist die andere Geschichte.

Gibt es eine dritte Geschichte der Wahrheit? Ja. Die Wahrheit entzieht sich uns oder wir uns ihr, wenn nicht ich es bin, der ihr entgegenzieht. Somit ist die dritte Geschichte der Wahrheit der Ver­such, eine Geschichte von mir zu erzählen. Eine von vielen. Ein Beispiel: Es ist Oktober letzten Jahres, als in diesem Magazin ein Essay von mir erscheint. Thema: Friedrich Nietzsche. Kontext: «Einsichten aus der Philosophenschmiede» – eine Serie, die monatlich einen Denker anhand eines seiner Werke vorstellt. Ich bin mit dem Text zu Nietzsche und seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne an der Reihe. Ein Text, den Nietzsche 1873, keine dreißig Jahre alt, verfasst, jedoch zeit seines Lebens nicht veröffentlicht.
Ich habe Nietzsches Aufsatz mehrmals gelesen. Ich lese ihn angesichts der Aufgabe erneut. Und dann schreibe ich meinen Text. Einen unwahren Text.
Warum unwahr? Nicht: weil ich Nietzsches Thesen falsch zusammenfasse oder Leser die Verständlichkeit bemängeln. Sondern: weil es mir nicht gelingt, die Fragen zu stellen, die ich zu fragen hätte. Unwahr also deshalb, weil ich meine Fragen nicht ernst nehme; weil ich die Mühe scheue, den richtigen Ton zu finden für das, was ich zu Nietzsche zu sagen, was ich ihn eigentlich zu fragen hätte.

Weitet die Sprache das Denken? Oder engt sie es ein? Begründen oder behindern Formen die Freiheit? Das sind meine Parzival-Fragen. Parzival misslingt es in Wolfram von Eschenbachs gleichnamigem Versepos, König Anfortas nach seinem Leiden zu fragen. Mir misslingt es, Nietzsche die richtigen Fragen zu stellen. Zu ihnen schreibe ich: nichts. Oder: nicht genug. Oder: nicht gut genug. Jedenfalls nicht das, was von mir zu fragen gewesen wäre. Diese Parzival-Situation offenbart: Die schlimmsten Fragen sind die verpassten.
Einen Monat später erscheint hier in der besagten Philosophen-Rubrik ein Text von Juan S. Guse zu Ludwig Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung. Und wovon handelt Guses Text? Von den von mir verwirkten Fragen! Welch eine Erlösung: Ein anderer sagt, was ich zu sagen gehabt hätte. Er fragt, was ich zu fragen gehabt hätte. Er tut dies auf seine Weise – für sich – für mich – für Nietzsche und Wittgenstein.
Wieder einen Monat später meldet sich Maria A. Kafitz von a tempo bei mir. Ob ich einen Essay zum Thema Wahrheit für die neue «Was heißt hier…»-Serie schreiben wolle? Ich sage gerne zu und bemerke, dass die bei Nietzsche unterschlagenen Fragen wieder zu mir zurückkehren. Was tun?
Im Johannesevangelium heißt es: «Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.» Für mich gilt: Zur Wahrheit führt die aufgedeckte Unwahrheit. Sie macht mich frei – vielleicht für die Wahrheit, in jedem Fall von der Unwahrheit. Der Versuch, eine dritte Geschichte der Wahrheit zu erzählen, ist die Geschichte dieser Konstellation. Es ist die Geschichte dieses Textes.
Gesetzt, dieser Text sagt alles und nichts: Ist es dann nicht denkbar, dass er jedem etwas sagt, der fragt? Es ist belanglos, von der Wahrheit zu sprechen, die verschwunden oder unwirksam geworden ist. Es ist von Belang, von der Wahrheit zu sprechen, die durch mich verwirklicht und von mir verwirkt wird. Ich verwirke sie, wenn ich ihre Fragen nicht suche. Sie wirkt in mir, wenn ich ihre Fragen finde. Die Wahrheit antwortet in Fragen. Das ist ihr offenbares Geheimnis.