Ruth Ewertowski

Was heißt hier traurig?

Nr 183 | März 2015

Schmerz, aber festlich

Es ist vor allem die Szene des Abschieds kurz vor der Hinrichtung, die so tief traurig ist: Die alternden Eltern der Geschwister Scholl haben noch eine Minute mit ihren Kindern – zuerst mit Hans, dann mit Sophie, bevor die beiden dem Scharfrichter zugeführt werden. Durch eine Schranke getrennt stehen sie sich in einem kahlen Raum gegenüber. Eine kurze Umarmung über diese Grenze hinweg, dann sagt Sophie: «Bitte sorgt euch nicht. Ich würde alles genau so wieder machen.» Darauf der Vater: «Es war alles richtig. Ich bin stolz auf euch.» Die Mutter kann kaum sprechen, steht aber aufrecht da und streicht ihrer Tochter über die Wange. Sophie, die sich große Sorgen um ihre Mutter gemacht hat, sagt zu ihr: «Mama, wie du so tapfer und gut bei mir stehst ...» – «Nun wirst du also gar nie mehr zur Türe hereinkommen», antwortet die Mutter, und Sophie tröstet sie: «Wir sehen uns in der Ewigkeit wieder.» Mit einem Kloß im Hals entringt sich der Mutter noch ein letztes Wort: «Gell ... Sophie, Jesus.» Und Sophie gibt zurück: «Ja, Mutter, aber du auch ...!» Darauf tritt die Wärterin ein. Sophie muss ihr folgen. Sie geht lächelnd drei Schritte rückwärts mit dem Blick auf ihre Eltern, dann wendet sie sich um. Jetzt verschwimmt ihr Lächeln in Tränen.
Ob es nun genau so oder etwas anders war, als es im Bericht der Schwester Inge steht und in dem Film Sophie Scholl – Die letzten Tage dargestellt ist, spielt keine Rolle. Die Szene ist schlicht und echt und gehört zu dem Traurigsten, was sich denken und fühlen lässt. Eltern und Kinder werden sich nie wiedersehen. Schließlich kommt es noch zu einer letzten Begegnung zwischen Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst, der mit ihnen zusammen wegen Feindesbegünstigung, Hochverrats und Wehr­kraft­zersetzung verurteilt wurde und nun auch hingerichtet werden wird. Zu dritt stehen sie da, rauchen die letzte Zigarette, die ihnen die Wärterin gegeben hat, auch wenn es gegen die Vorschriften ist.
«Es war nicht vergebens», sagt Christoph, Vater dreier Kinder. Sie umarmen einander. Kurz darauf wird Sophie abgeführt.
Alle drei werden hintereinander enthauptet. Schlimmer hätte es nicht kommen können – und doch haben diese Menschen eben die größte Feierstunde ihres Lebens durchlebt. Auch für das Film­publikum ist diese Szene unendlich traurig und zugleich der Höhepunkt der Ereignisse. Sie bleibt in Erinnerung, weil wir mit ihr ein intensives Gefühl durchleben, das zwar tief erschütternd, aber nicht bloß negativ ist. Sie enthält das Äußerste des Menschen­möglichen. Ja, in diesem Abschied liegt etwas Erhabenes, nämlich das Gefühl, dass der Mensch mehr ist als ein sterbliches, der Ver­nichtung ausgeliefertes Wesen, dass er Erfüllung geben und finden kann, auch wenn dies mit einem großen Verlust einhergeht.

Die hier erlebte Traurigkeit ist etwas ganz anderes als eine Depression, denn sie lässt Sinn erfahren. Und obwohl drei Leben viel zu früh an ein Ende – und noch dazu ein bitter ungerechtes – gekommen sind, gibt es hier Zukunft. Nicht der Schmerz erdrückender Hoffnungs­losigkeit, nicht die Leere, Angst, Unruhe und Verzweiflung liegen über diesen Toden, sondern der festliche Schmerz, der an den eigenen Grenzen einen größeren Lebens- und Sinnzusammenhang aufscheinen lässt – die Berührung mit dem tiefsten Grund des Seins: mit Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit.
Der Schmerz der Traurigkeit ist immer der einer Wertschätzung, während in einer Depression alles wert- und sinnlos erscheint – bis dahin, dass schließlich weder Freude noch Trauer empfunden werden können und das Gefühl der Gefühllosigkeit zur Lebensmüdigkeit führt. Die Traurigkeit ist keine Krankheit wie die Depression, sondern eine Gefühlskraft des Menschen, der mit ihr so etwas wie eine Katharsis, eine Reinigung seiner Seele von all den meist kleinlichen Kümmernissen des Lebens erfahren kann. Ja, Trauer lädt eben sogar zur Feier. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Trauriges da ein Thema ist, wo wir außerhalb aller Nützlichkeit stehen, nämlich in der Kunst. – Es gibt Bücher, die man gerne liest, eben weil sie so traurig sind. Sie lassen uns das Leben spüren, gerade weil wir dabei von Abschied und Tod berührt werden. Dasselbe gilt für den klagenden Ton einer Musik, wie etwa Mozarts Requiem oder einem Blues. Es gilt auch für die Melancholie einer Licht­stimmung auf einem Bild von Caspar David Friedrich. Fast immer hängt die Traurigkeit mit Einsamkeit, Trennung und Vergänglichkeit zusammen. So liegt meist das Licht des Abends auf einer solchen Szene.

Es ist die spezifische Zeitlichkeit des Menschen, im Unterschied zu der der Natur, die der übersinnliche Grund unserer Traurigkeit ist: Die Natur geht ihren geschichtslosen Gang, der sich in Kreis­läufen vollzieht, in denen das Vergangene mit neuer Kraft wiederkehrt. Das Leben des Menschen hingegen ist deshalb schicksalsträchtig und schmerzempfindlich, weil es Anfang und Ende hat, weil es eine Geschichte ist, in der es allenfalls motivische Wiederholungen gibt, im Übrigen aber alles einzigartig ist, weshalb ein Abschied, ein Nie-mehr-Wiedersehen so wehtut. Die Natur kann immer frisch und frei an den Bau eines neuen Lebens gehen. Der Mensch hingegen hat nur ein «übriges» künftiges Leben, und das hat eine Vergangenheit, die der Quell sowohl seines Reichtums als auch seines Schmerzes ist. Alles Zwischenmenschliche erhält aus dieser Sphäre der Geschichtlichkeit und Unwiederholbarkeit seine Bedeutung. Wenn wir hier etwas verloren oder versäumt haben, ist es meist endgültig. Der geliebte Mensch, den wir – ob aus inneren oder äußeren Umständen oder aus Nachlässigkeit – verloren oder nicht gehalten haben, kehrt so nicht wieder wie zu der Zeit, zu der er die Erfüllung bedeutet hätte. Auf dieser Einmaligkeit basieren viele tragisch-traurige Liebesgeschichten. Hier ist es die fehlende Erfüllung, die ihr ganzes Gewicht auf die Seele wirft und doch zugleich auch auf den Leser eine reinigende Wirkung ausübt, ja eine Sinnerfahrung gibt, die über die Banalitäten des Alltags hinaushebt.
Das ist eine andere Traurigkeit als die, die über dem Tod der Mitglieder der Weißen Rose liegt. Denn diese gingen ja in dem Bewusstsein, ihre Lebensaufgabe erfüllt zu haben. Die Unerfülltheit hingegen, wie sie schuld- oder schicksalhaft ein Leben bestimmen kann, muss nach neuen Wegen suchen. Man kann nicht ändern, was vergangen ist, aber verwandeln, was man in seiner Unerfülltheit gewesen ist. Das Traurigsein hat als intensives Gefühl dann wohl auch die Kraft zu einer Einweihung – so vielleicht, dass allmählich Weisheit und Liebe daraus hervorgehen können.