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Frances Hardinge

Das Mädchen ohne Maske

Nr 183 | März 2015

gelesen von Simone Lambert

In der unterirdischen Stadt Caverna leben die Menschen unter dem grausamen Regime eines 500 Jahre alten Despoten, des Grand Stewart. Einer, der sich vor den Intrigen des Hofes zurückgezogen hat, ist der Käsemeister Grandible. Erschrecken kann ihn nur noch das Gesicht eines etwa sechsjährigen, rothaarigen Mädchens, das er eines Tages aus der Dickmilch fischt. Die Kleine erinnert sich weder an ihren Namen noch an ihre Herkunft. Grandible nimmt sie auf, halb als Lehrling, halb als Gefangene, um ihr Antlitz sieben Jahre lang vor den Blicken der Besucher zu verbergen.
Doch Neverfell, wie Grandible sie nennt, ist viel zu neugierig, um nicht irgendwann ihre Nase aus den Käsekellern zu stecken, und zu naiv, um nicht sofort in Schwierigkeiten zu geraten. Es ist der reiche Winzer Maxim Childersin, der sie daraus befreit, weil er einen Vorteil wittert, wenn er das Mädchen mit dem skandalösen Gesicht in die Familie aufnimmt. Neverfell wird Vorkosterin des Grand Stewart. Dann stirbt dieser aber unter ungeklärten Um­ständen und ein Machtkampf entbrennt. Neverfell wird als Mörderin verdächtigt und flieht vor den Ermittlern. Neverfell, die sich so nach Licht und Luft sehnt, lernt auf diese Weise die dunkle Stadt kennen, vom Hof bis zu den Höhlen der Arbeiter. Sie begegnet dem Kleptomancer, Meisterdieb und Erzfeind des Grand Stewart, und den verrückten Kartographen.
In Caverna existieren Hochkultur und Barbarei nebeneinander. Die Gewerke produzieren meisterhafte Köstlichkeiten, wahre Wunder, gleichzeitig sind Mord und Folter an der Tagesordnung. Hunderte Jahre alt können die reichen Caverner werden, doch ihr Gefühlsleben erlischt nach der normalen Lebensspanne. Zudem sind die Caverner unfähig, ihre Gefühle zu zeigen. Mimik und Gesichtsausdrücke werden von Mienenschmieden teuer erlernt und gezielt eingesetzt, um egozentrische Interessen durchzusetzen. Die Arbeiter dagegen, die wie Sklaven leben, haben nur ein ausdrucksloses Puppengesicht zur Verfügung. Trotz des hilflosen Gleichmuts ist deren Leid für Neverfell unübersehbar.
In dieser intriganten Gesellschaft ist Neverfell eine Sensation, denn sie trägt ihr Herz auf der Zunge und ihr Denken im Gesicht. Ihr Wesen holt die Sonne in die dunklen und muffigen Gänge von Caverna. Alles kann man ihren Zügen ablesen – und das ist in dieser Gesellschaft ein Affront, ein Faszinosum und ein Lebensrisiko zugleich. Denn Neverfell ist nicht nur ehrlich, sie deckt auch die Lügen und Verbrechen auf. Sie wird ihre Herkunft entschlüsseln, das Geheimnis der Childersins entdecken und eine Zukunft finden für sich und ihre Freunde.

Frances Hardinges trägt mit Humor und Gefühlstiefe einen einzigartigen menschlichen Ton in die Jugendliteratur. In ihrer Tragikomödie erzählt sie eine ethische Ge­schichte als fantastischen Abenteuerroman – und sie versteht es, ein überbordendes Geschehen und komplexe Charaktere zu entwickeln und durch virtuose Blickwechsel Spannung und Komik zu erzeugen. Und wenn die Sehn­süchtigen am Ende des 600seitigen Pageturners über den Erdboden schreiten und in den Himmel schauen, dann weiß der gefesselte Leser eines sicher: Was für ein Glück es ist, am Leben zu sein!


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