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Iain Lawrence

Die Geister meines Hauses

Nr 188 | August 2015

Als Kind wohnte ich in vielen Häusern, aber nur in einem davon spukte es. Das Haus war zwei Stockwerke hoch und alt, der Wind pfiff durch die Ritzen, und es gab ein Zimmer im Keller mit einem Fenster und einem Lehmboden, in das sich nicht einmal die Katze allein hineintraute. Unsere Schlafzimmer waren im zweiten Stock. Eine steile Treppe führte direkt von der Diele dort hinauf, und es war diese Treppe, die meine Schwester eines Nachts hinuntergerannt kam. Sie hatte furchtbare Angst. Ein Gespenst hatte auf ihrer Bettkante gesessen und sie angefasst. Ich glaubte ihr nicht. Ich lachte. Und dann passierte mir in dieser Nacht das Gleiche. Ich lag in meinem Zimmer, das neben ihrem lag, und war gerade beim Einschlafen, als ich fühlte, wie die Matratze leicht nach unten sackte, als ob sich jemand neben mich gesetzt hätte. Dann legte sich eine Fingerspitze auf meine Stirn. Aber niemand war da.
Jahre später arbeitete ich für eine kleine Zeitung in einem nörd­lichen Teil von British Columbia. Das Büro befand sich in einem denkmalgeschützten Gebäude in der Nähe der Bahngleise. Es war eines der ältesten Häuser der Stadt. Man erzählte mir, dass ein Gespenst manchmal durch die Räume im oberen Stock wandern würde. Eines Nachts, als ich allein im Büro war, hörte ich schwere Schritte auf mich zukommen. Aber der Gang, in dem ich stand, war völlig leer.
Jetzt verkaufe ich mein eigenes Spukhaus. Daran ist nichts Beängs­tigendes. Es gibt keine Gespenster, die durch die Gänge wandern oder mich nachts berühren. Mein Haus ist von Geistern anderer Art bevölkert. Es ist ein Figuren-Haus. Es ist nicht besonders alt – es gibt etliche Katzen, die älter sind. Es ist nicht in winzige Räume aufgeteilt oder mit dunklem Holz getäfelt. Mein Haus ist hell und luftig, mit riesigen Fenstern, die geradewegs auf das Meer hinausblicken. Vor ein paar Jahren habe ich an der Nordseite ein Zimmer angebaut. Von der Straße aus sieht es so aus wie ein Turm, der sich über dem Haupthaus erhebt. Die Decke ist bis zu dreieinhalb Meter hoch, und die Wände sind mit Bücherregalen gesäumt. Es ist ein literarisches Labor, in dem ich arbeite – ich schreibe seit Jahren Kinder- und Jugendbücher – und wie Frankenstein Figuren aus unterschied­lichen Einzelteilen zusammensetze.
Wie viele Figuren sind gekommen und wieder gegangen? Wochen und monatelang, manchmal sogar mehr als ein Jahr habe ich mein Haus mit Piraten und Piloten und Polarforschern geteilt. Es gab ein sprechendes Pony und einen Hund mit der Seele eines Jungen. Für mich spuken sie in diesem Haus herum und besonders in dem Raum, in dem ich arbeite. Überall erinnert etwas an sie, und manchmal höre ich ihre Stimmen. Ich lasse sie nicht gerne zurück. Ich frage mich, ob der Nächste, der in diesem Haus leben wird, ihre Gegenwart genauso spürt wie ich. Vielleicht ist es das, was ein Gespenst ausmacht. Vielleicht ist es gar kein Phantom, sondern eine Art Überbleibsel des Geistes eines Menschen. Es war etwas da in dem Haus, in dem ich als Kind lebte, und auch in dem Büro der Zeitung. Und vielleicht sind die Dinge, die wir denken, genauso wirklich wie die Dinge, die wir sehen, und wir lassen sie zurück, wenn wir weitergehen, wie Fingerabdrücke an der Wand oder Schrammen im Boden.
Besucher bemerken manchmal eine «kreative Energie» in meinem Arbeitszimmer. «Es ist das Haus eines Künstlers», sagen sie. Oder: «Es ist das Haus eines Schriftstellers», als ob das Haus eines Zahnarztes oder eines Handwerkers ihnen ein anderes Gefühl vermitteln würde. Vielleicht können Häuser tatsächlich kreativ sein. In diesem Haus habe ich mich jedenfalls immer zu Hause gefühlt. Doch nun sag ich leise: «Leb wohl, altes Haus.»

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst