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Richard Scrimger

Meine Seele ein Meer

Nr 192 | Dezember 2015

gelesen von Simone Lambert

Dieser bewegende Roman beschreibt das Sterben einer alten Frau aus der Perspektive der beinahe Neunzig­jährigen. Rose Rolyoke ist dement und wird von ihrer Tochter Harriet und Ärzten umsorgt. Aus dieser Gegenwart geht sie immer wieder in die Vergangenheit zurück, erzählt ihr Leben als ineinander verflochtene Er­inner­ungen. Es ist die eine Frage, die sie sich immer wieder stellt und die diese Splitter zu einem Lebensbild zusammenfügt: Habe ich genug geliebt?
Fast das ganze zwanzigste Jahrhundert umspannt Roses Leben, das in England beginnt. Die Tochter von Auswanderern wächst auf einer kanadischen Farm auf, wo sie von früh an hart arbeitet. Es sind die Blumen, die sie liebt und an denen sich ihr Talent entfaltet. Später wird sie einen Blumenladen führen und Pflanzen den menschlichen Tugenden und Lastern zuweisen: Es entspricht ihrer Art von Humor, mithilfe dieser Allegorien ihr Leben zu ordnen und zu verarbeiten.
Als junges Mädchen nimmt Rose eine Stelle als Küchenhilfe in einem Industriellenhaushalt in Philadelphia an. Ihre Schönheit sorgt für Unruhe, denn Robbie, der Sohn des Hauses, verliebt sich in sie und heiratet sie, als sie schwanger ist – und wird daraufhin von seiner Mutter verstoßen. Er wird jung einen absurden Tod sterben und Rose wird die meiste Zeit ihres Lebens als Witwe verbringen. Mit ihrem Leben im Haushalt der Rolyokes schildert Scrimger eindringlich eine eigene Welt, die von Demütigungen und Miss­brauch geprägt wird.
Rose kennt die Liebe nicht. Da ist die eher nüchterne Beziehung zu den Eltern. Da ist die Tochter, die sie nicht versteht. Da sind die Männer, die sie begehren. Der Autor kreiert immer wieder dieselbe Situation: Ein Mann klopft an ihre Zimmertür. Jedes Mal ist es ein anderer, als der Leser erwartet. Scrimger findet skurrile Details für eine sprachlose Sexualität und feinfühlige Worte für die Überraschungen, die sie begleiten.
Rose fühlte Nähe, Wärme, Leidenschaft nur für ihre Jugendliebe. Sie findet es mühsam, auch nur ihre Tochter zu lieben. Die unverheiratete Harriet ist anders als ihre Mutter: uneitel, angetrieben vom Wunsch nach Gerechtigkeit und Liebe zu den Menschen und dem – vergeblichen – Ehrgeiz, Anwältin zu werden. Rose bereut, sie nicht mehr geliebt zu haben, als sie spät die tiefe Verbindung zu Harriet begreift.
Sie wendet sich an Christus mit ihren Erinnerungen: «Ich, Rose, fast neunzig und am Sterben, bitte Dich, Dich meiner anzunehmen – nicht in der Zukunft, denn ich habe keine; und nicht in der Gegenwart, weil sie mir schneller durch die Finger gleitet als einem Säufer sein Erbe. Nimm dich meiner an in der Vergangenheit … Bewache mich an jedem einzelnen Tag des Lebens, aus dem ich jetzt scheide.»
Dies ist kein Versuch, sich in das Denken einer Demenzkranken einzufühlen. Richard Scrimger extrapoliert das, was er an Dementen wahrnimmt, zu einer literarischen Fuge über das Bewusstsein im Angesicht des Todes. Roses Ansprache an Christus als Respekts­person, vor der sie Rechenschaft über ihr Leben ablegt, ist Fiktion. Denn Demenz ist Regression, die sich der Rechenschaft entzieht.
Dieser Roman ist ein berührendes Gebet, das für das Leben dankt, das eigene, unvollständige Leben, bevor es in Ewigkeit übergeht. Obwohl sie Worte vergisst oder falsch gebraucht und ihre Erinnerungen ineinanderlaufen, oder vielleicht gerade deswegen, erreicht Roses Gebet den Leser als eines der bedeutungsvollsten und tiefsten überhaupt.