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Astrid Frank

Unsichtbare Wunden

Nr 196 | April 2016

gelesen von Simone Lambert

Astrid Franks Roman handelt von einem tragischen Mobbingfall. Abwechselnd mit den Tagebuchnotizen der dreizehnjährigen Anna und mit dem Fokus auf Simon, Annas verwitwetem Vater, und Anton, Annas bestem Freund, wird die Entwicklung vor und nach Annas Tod erzählt. Simon erhält Aufschlüsse über den Mobbingverlauf durch Annas Tagebuch und verzweifelt, weil er keine rechtliche Handhabe hat, um ihre Mitschüler zur Rechenschaft zu ziehen. So nimmt er die Gerechtigkeit selbst in die Hand …
Anna ist ein beliebtes Mädchen, als eine neue Klassen­kameradin, Nina, sich zwischen sie und ihre beste Freundin Manu drängt. Nina sorgt für einen neuen, perfiden und hämischen Ton in der siebten Klasse. Anna, die mit Karaoke-Spielen, bauchfreien Tops und Jungsgeschichten nicht viel anfangen kann und sich lieber mit ihrem Pferd beschäftigt, wird ausgeschlossen. Es sind neue pubertäre Normen, die sich in der Klassen­gemeinschaft durchsetzen, auch wenn sich nicht alle damit sicher und wohl fühlen. Anna hat die Traute, Fragen zu stellen oder Irrtümer geradezurücken, und gerade deswegen wird sie attackiert. Es wird ein Klassenphänomen, Anna herabzusetzen, auszugrenzen und zu ängstigen. Anfänglich gelingt das mit Blicken und Getuschel, dann kürt man sie wöchentlich zur unbeliebtesten Mitschülerin, man behauptet, sie stinke nach Pferd und verunglimpft sie im Internet als Hure, bis sie sich bis in ihren letzten privaten Winkel verfolgt und verurteilt fühlt.
Das Grausame ist, dass das Verhalten der Jugendlichen alogisch und ohne Bewusstsein ist. Indem es die Kommunikation zerstört, vernichtet es Annas Selbstvertrauen. Sie magert ab und scheuert sich die Haut wund, um den vermeintlichen Gestank loszuwerden. Die brutale Spirale sozialer Ächtung und Gewalt dauert unerkannt etwa anderthalb Jahre an, bis Anna, auf der Flucht vor Klassenkameraden, kopflos vor ein fahrendes Auto reitet, stürzt und sich tödlich verletzt.
Astrid Frank schildert den schrittweisen Prozess präzise, eindringlich und erschütternd. Der Roman ist ein Lehrstück und ein Aufklärungsbuch; er zeigt, wie Mobbing funktioniert, spielt verschiedene Mobbingvarianten durch und verdeutlicht zudem vor allem, welche Verhaltensfehler von Schülern, Eltern und Lehrern verhindern, dass die Vorgänge handhabbar werden.
Als Anton gegen Annas Willen die Klassenlehrerin über die Machtspiele in Kenntnis setzt, legt diese ihren Schülern nahe, der schwierigen, sozial unverträglichen Anna noch einmal eine Chance zu geben – und manifestiert mit dieser Wertung den Missbrauch. Und Annas Vater Simon ist stolz darauf, die Privatsphäre seiner Tochter zu respektieren, erkennt aber nicht, dass sie nicht allein zurechtkommt. Selbst als Anna sich ihm zu öffnen versucht, findet er keinen Zugang zu ihr und reagiert mit Gemeinplätzen auf die ungreifbare Situation.
Mobbing ist kein modernes Phänomen, auch wenn der englische Begriff dies suggeriert. Modern ist allenfalls, dass die Angst vor und das Desinteresse am Kontakt die Unsichtbarkeit des Geschehens begünstigt. Das Drama zeigt, dass Mobbing weder durch das Verschwinden der geächteten Person erlischt, noch durch Rache und Bloßstellung. Nach Annas Tod geht es weiter.

Der Roman Unsichtbare Wunden von Astrid Frank erzählt nicht nur eine spannende Geschichte, er eignet sich hervorragend auch als Unterrichtslektüre zum Thema. Sehr empfehlenswert.