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Hilde Vandermeeren

Fabelhafte Fanny Funke

Nr 200 | August 2016

gelesen von Simone Lambert

«Ich schaue durchs Fenster zu den Häusern. In den meis­ten brennt Licht. Vielleicht wohnen darin Kinder mit Eltern, die auf ihre Fragen antworten. Die einem erklären, warum es keine Babyfotos gibt. Oder warum man außer­gewöhnlich ist.»
Diese trockene Stimme gehört der neunjährigen Ich-Erzählerin Fanny, die mit ihrem verwitweten Vater in einem Haus in einer abgelegenen Straße lebt. Nur zwei Nachbarn finden sich hier noch: die Familie von JT, ihrem besten Freund, und die schrullige Roberta. JT und Fanny haben eine Elternkrise. JT glaubt, adoptiert worden zu sein, weil es keine Babybilder von ihm gibt; sie seien bei einem Brand vernichtet worden. Er interessiert sich für das Weltall und für Dinosaurier, aber seine Eltern, einfache Arbeiter mit schrägen Hobbys, verstehen davon nichts. Fannys Vater «erforscht Würmer» und schweigt über seine tote Frau. Fanny und JT plagen sich mit ihren Eltern, die nichts erzählen. Die Kinder wollen mehr darüber wissen, woher sie kommen und wer sie sind. Fanny hofft, dass sie die Verbindung zu ihrer Mutter spüren kann, wenn ihr Vater ihr erklärt, warum sie ihre Tochter außergewöhnlich fand.
Hilde Vandermeeren schildert Fannys Versuche, hinter dieses Mirakel zu kommen. Aber hat außergewöhnlich-sein immer mit etwas-besonders-gut-können zu tun?
Es ist die Sehnsucht nach der Mutter und ihrer Anerkennung ebenso wie der Wunsch, in der Welt ein Echo zu finden, der Fanny nun antreibt, diese geheimnisvolle Äußerung zu ergründen. Bei ihrer Suche lässt sie sich von ihrer Umgebung inspirieren. Ist sie gut darin, Tiere in Not zu retten, wie das gepiercte Mädchen, das für eine Tierschutzorganisation sammelt? Auf der Suche nach Tierrettungsaktionen muss sie erst eine Notsituation kreieren und «befreit» Robertas Schaf aus dem Gatter, was einen Unfall provoziert – und Ärger. Doch Fanny gibt nicht auf …
Dass der Vater um seine Arbeitskollegin Marion wirbt, versteht Fanny nicht, denn er erklärt sich nicht. So entwickelt sich eine komische Situation nach der anderen, was damit endet, dass Fanny sich als «einsamstes Kind der Welt» versteckt und Marion in Panik und der Vater in Wut gerät. Fanny ist verletzt und reißt aus – bis zu JTs Haus, denn die nächtlichen Geräusche und Schatten sind ihr unheimlich. Die Lage eskaliert, es bricht aus Fanny heraus und endlich öffnen sich auch die Großen … Jetzt erst erfährt JT, was damals in der Brandnacht geschah und endlich hört ihr Vater der kleinen Fanny zu.

In diesem heiteren Kinderroman geht es um Kommunikation, genauer um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Die Erwachsenen reden nicht mit den Kindern und die Kinder trauen sich nicht, offen zu sagen, was sie denken. Fannys über­raschende Einfälle jedoch locken schließlich alle aus der Reserve. Fanny ist witzig. Ihre Irrtümer, ihre nüchternen Beobachtungen wie die über Hibbel-Lehrer oder ihre Vorstellungen von Wuligrulis, die kleinen fressgierigen Monster, die vorzugsweise nachts unter Kinderbetten hausen, sorgen für Lesespaß. Fanny widersetzt sich der Gewöhnung, und das ist außergewöhnlich genug.
Der Rubikon, die Schwelle, die aus der Kindheit hinausführt und das Verhältnis zu den Eltern in Frage stellt, ist das selten im Kinderbuch behandelte Thema bei Vandermeeren. Die Autorin macht das humorvoll, subtil und glaubwürdig – außergewöhnlich gut.