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Kestutis Kasparavicius

Wie man Kind bleibt

Nr 208 | April 2017

Meine Kindheit war geprägt von Eindrücken aus der Natur. Und viel mehr als Natur gab es auch nicht – dort, wo ich aufwuchs.
Es war eine ländliche Gegend, ein See, ein alter Park, zahllose Linden und Birken. Darum herum befand sich die Sowjetunion, zu der Litauen damals gehörte, und das bedeutete viel Grau. Heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass dieser Park und die Natur mit all ihren Geheimnissen den Grundstein dafür gelegt hat, als Künstler mit Farben arbeiten zu wollen.
Gut, es gab einen kleinen Umweg. Eine Zeit lang studierte ich in unserer Hauptstadt Vilnius Musik und dachte, ich sollte Dirigent werden. Nach einiger Zeit aber wurde mir klar, dass ich mich nicht wohl fühlte, wenn ich es ständig mit vielen Menschen zu tun hatte. Nun ist es so, dass es in meiner Heimat Litauen sehr viel regnet. Und was tut man, wenn man nicht gern unter zu vielen Menschen ist und es draußen regnet? Man schaut aus dem Fenster und denkt sich Geschichten aus. So entschied ich mich, an die Kunstakademie zu gehen.
Heute kann ich sagen, dass ich für jeden Moment dankbar bin, den ich in meiner Kindheit in jenem alten Park verbringen durfte. Dort hatte ich meiner Fantasie freien Lauf lassen können, dort waren die Keime für Geschichten entstanden, die ich nun zeichnerisch umsetzen konnte. Ich war immer ein eher zurückhaltendes Kind, und in gewisser Weise glaube ich, daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Sich auch mit über 60 Jahren jung und unbedarft wie ein Kind zu fühlen, hat viele Vorteile, auch wenn das im täglichen Leben nicht immer nur einfach ist.
Wie auch immer, ich begann, Kinderbücher zu illustrieren. Zunächst waren es klassische Geschichten von H.C. Andersen, E.T.A. Hofmann oder Carlo Collodi. Dann begann ich, selbst die Texte zu meinen Bildern zu verfassen. Und ich muss gestehen, dass mir dies immer mehr Spaß machte, was schließlich dazu führte, dass ich in den letzten 30 Jahren etwa 60 Bücher ver­öffentlich habe.
Ich habe es immer sehr interessant gefunden, wie meine Bilder aufgenommen wurden. Ein Freund sagte mir einmal: «Das Gute an deinen Bildern ist, dass man immer deutlich erkennen kann, was sie darstellen.» Ein großes Lob. Ein Kritiker hat meine Illustrationen einmal als «magischen Realismus» bezeichnet, aber ich würde sagen, das ist Unsinn. Magisch, ja, das schon, ich mag Künstler wie M.C. Escher oder Shaun Tan. Letztlich war es mir aber immer wichtig, nah an der Natur zu bleiben.
Das sieht man auch in den Bildern meines Buches Die Reise ins Schlaraffenland.* In dieser Geschichte habe ich mich an mehreren bekannten Erzählungen orientiert, und das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte von drei Katzen, die sich nach einem Land sehnen, in dem sie nichts tun müssen außer zu faulenzen und sich von einer Leckerei zur nächsten zu bewegen. Sie begegnen dort den eigenartigsten Wesen, wie zum Beispiel dem schwarzweiß gestreiften Kuhfisch, der zu nichts taugt, als die Leute von einem Ort zum anderen zu befördern. Am Ende wachen die Katzen auf und bemerken, dass sie alles nur geträumt haben. Und es wird ihnen klar, dass man nicht wirklich einen Baum braucht, an dem an jedem Ast ein Eis wächst, das man nur herunterpflücken muss. Oder einen Jungbrunnen, der einen niemals alt werden lässt. Jedes Alter hat seinen Reiz – das erkennen die Katzen im Schlaraffenland, und das habe auch ich erkannt. Und in diesem Punkt weiß ich sehr genau, wovon ich rede.