Titelbild Hochformat

Astrid Frank

Was aus uns wird ...

Nr 210 | Juni 2017

«Was soll nur aus dir werden, wenn du groß bist?», sagt Ennos Mutter ein ums andere Mal zu ihrem Sohn und schüttelt dabei sorgenvoll den Kopf. Würde sie Enno einmal fragen, was er werden will, wenn er groß ist, erhielte sie zur Antwort, dass er Schriftsteller werden möchte. Aber erstens fragt sie nicht und zweitens glaubt sie nicht an die Fähigkeiten ihres Sohnes, denn der hat ausgerechnet im Fach Deutsch eine so schlechte Note, dass seine Versetzung gefährdet ist. Und wie bitte soll jemand Schriftsteller werden, der noch nicht einmal die Rechtschreibregeln beherrscht?
Ennos Geschichte* spielt mit den verschiedenen Inter­pretationsmöglichkeiten von Stärke und Schwäche. Und sie zeigt auf, welche Auswirkungen der Leistungsgedanke unserer Gesellschaft auf die Entwicklung junger Menschen hat; wie das, was uns von anderen über uns selbst widergespiegelt wird, uns lähmen oder beflügeln kann.
Besonders sensiblen und empathischen Menschen, die ein feines Gespür für die Stimmungen und Gefühle anderer haben, fällt es schwer, sich abzugrenzen. Sie «versagen» besonders schnell, wenn Anforderungen an sie gestellt werden. So geht es auch dem 11-jährigen Ich-Erzähler Enno, dessen Fähigkeit mitzuempfinden so stark ist, dass er sich problemlos wie eine Ameise fühlen kann. Dafür hat er es aber auch besonders schwer, sich von «störenden» Außenreizen abzugrenzen. Oder ist er vielleicht ein Alien von einem fernen Planeten? Nur so kann er sich erklären, warum er so «anders» ist als die übrigen Mitglieder seiner Familie.
«Orchideenkinder» nennen Thomas Boyce (University of California in Berkeley) und Bruce Ellis (University of Arizona in Tucson) solche Kinder, die stärker empfinden als andere und für äußere Reize empfänglicher sind, darauf aber auch sensibler reagieren. Erstmals 2005 stellten die beiden Autoren im Magazin Development and Psychopathology ihre These vor, der zufolge psychisch belastbarere «Löwenzahnkinder» die Fähigkeit besitzen, selbst unter widrigen Umständen zu gedeihen, während die Entwicklung der «Orchideenkinder» in weit größerem Maß von optimalen Umweltbedingungen abhängt, diese bei entsprechender Förderung aber auch zu besonderen Leistungen imstande sind.
Enno ist ein solches «Orchideenkind», eine «hochsensitive Person» wie die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron es beschreibt. 15 – 20 Prozent der Bevölkerung gehören ihrer Schätzung nach dazu. Gerade solche Kinder haben es in unserer leistungsorientierten und reizüberfluteten Gesellschaft schwer. Sie «funktionieren» oft nicht richtig bzw. nicht so, wie wir Erwachsenen es zunehmend von ihnen erwarten.
Und so gerät auch Ennos Mutter unter Druck, die zwar spürt, dass Enno anders ist als seine große Schwester Elena, aber zunächst keine Lösung weiß, damit umzugehen. Ebenso wie Ennos Lehrerin Frau Wolf an der Aufgabe scheitert, einmal mit einem anderen Blick auf den Jungen zu schauen: Sie übersieht Ennos Fantasie und Erzählkunst in seinen Aufsätzen, nimmt stattdessen nur die Rechtschreibschwäche ihres Schülers wahr. Es sind die persönlichen Perspektiven von Mutter und Lehrerin, welche die Basis für die Beurteilung von Ennos Fähigkeiten bilden. Sein bester Freund Olsen hingegen schafft es, vorurteilsfrei auch die Stärken zu sehen. Und so hat Enno es ihm zu verdanken, dass seine Mutter am Ende des Buches ihrem Sohn die best­mögliche Unterstützung bietet, die sie ihm bieten kann: Sie glaubt an ihn und kann sagen: «Enno wird seinen Weg machen, wenn er groß ist. Denn er ist gut so wie er ist.»