In den letzten Wochen hatten Anne und Phil den Schwerpunkt auf die Renovierung der Einliegerwohnung gelegt, um Annes Mutter nach dem Tod ihres Mannes bei sich aufnehmen zu können. – Jetzt wohnt sie bereits einen Monat bei ihnen, und nichts ist mehr wie früher.
Cedric, Cosima und Arvid freuen sich sehr über Omas Einzug. Sie ist zwar jeden Tag bei ihnen im Haus, weil ihr die eigene Wohnung viel zu klein erscheint, aber das stört die Enkelkinder wenig. Oft riecht es gut nach dem Essen, das sie für alle kocht – und zu einem Kartenspiel ist sie auch immer bereit. Besonders Cedric freut sich, wenn er heimlich von Oma noch eine Tafel Schokolade zugesteckt bekommt. Wenn das Mama wüsste! Aber mit Oma kann man Geheimnisse haben. Cosima sitzt oft abends bei Oma und lässt sich die alten Geschichten von früher erzählen. Nur Arvid scheint skeptisch zu sein. Oma findet, er sei zu weich, weil er Tänzer werden möchte. Das ist doch kein Beruf für einen Mann!
Anne hat es sich mit ihrer Mutter anders vorgestellt. Zunehmend ergreift diese das Zepter in ihrer Küche. Sie kritisiert Annes Unordnung, stellt Geschirr um und akzeptiert die Ernährungsweise der Familie kaum. Ständig riecht es nach Fleisch in ihrem Haus. Phil und Cedric finden Poularden mit Rotkohl dagegen gar nicht so schlecht! Neulich hat ihre Mutter sie vor den Kindern gemaßregelt: «Du musstest schon immer was Besonderes sein!» Anne hat einen Wutausbruch bekommen und das Zimmer verlassen, wie alle das sonst nur von Cosima kennen. «Mama ist in der Pubertät», lästert Cedric und freut sich, dass nicht er in der Schusslinie steht. Am Abend lässt Anne in der Familie ihren angestauten Gefühlen freien Lauf. «Mama, jetzt sei doch nicht so gemein zu Oma», verteidigt Cosima ihre Oma. Das macht alles nur noch schlimmer. Anne fühlt sich haargenau wie früher. Mit dem Unterschied, dass es heute nicht ihr jüngerer Bruder ist, der sie «verrät», sondern ihre eigene Tochter. Selbst Phil findet, dass sie zu empfindlich reagiert. Nie kann ich es ihr recht machen, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, denkt Anne und fühlt eine altbekannte Trauer und Wut in sich. Es schmerzt sie, ihre Mutter heute so innig und vertraut mit ihren Kindern umgehen zu sehen. Denn Ausgelassenheit, Lachen und körperliche Nähe hat es bei ihr nicht gegeben!
Annes Mutter ist 78 Jahre alt und ein «Kriegskind», diesen Umstand hat Anne immer wieder deutlich zu spüren bekommen. Ihre schwierige Mutter-Tochter-Beziehung scheint kein Einzelschicksal zu sein, sondern eine Folge der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, in dem eigene Gefühle und Bedürfnisse abgespalten werden mussten. Es ging ums Überleben!
Anne weiß um den Mangel und das Unvermögen ihrer Mutter und dachte, sie hätte Frieden damit geschlossen. Doch tief in ihr sitzt noch immer das «kleine bedürftige Kind» von damals und wird gerade in der neuen Familienkonstellation aktiviert. Anne nimmt sich vor, in Kontakt mit ihrem «inneren Kind» zu treten und dieses liebevoll an die eigene Hand zu nehmen. Schließlich müssen sich die Dinge auch ganz erwachsen besprechen lassen. Und dazu braucht sie Phil an ihrer Seite. Anne muss an das «Familien-Mobile» denken: Verändern sich die Rollen in der Familie, ändert sich das ganze System, und alle versuchen krampfhaft, das Ungleichgewicht auszugleichen. Wer hat hier zukünftig welchen Platz und was darf gekocht werden, scheint dabei ein wichtiger Fokus im gemeinsamen Gespräch mit ihrer Mutter zu werden. Zu allererst aber möchte Anne sich an der Entwicklung den Enkelkindern gegenüber erfreuen. Es ist doch schön, dass sie so viel Liebe von ihrer Oma bekommen!