In der Literatur über Albrecht Dürer (1471 – 1528) wird immer wieder betont und gut begründet: Dürer verkehrte in humanistischen Kreisen; demzufolge ist sein Werk vom Humanismus geprägt und im Zusammenhang mit der Renaissance zu verstehen. Und Dürers Humanismus gründet in der christlichen Mystik. Das wird vor allem in der Betrachtung seiner Selbstbildnisse deutlich. Für Albrecht Dürer – wie für keinen anderen Maler und Zeichner vor Rembrandt – gilt das Wort von Heraklit: «Ich durchforsche mich selbst.»
Den Weg seiner Selbsterkenntnis erlebte er als Christussuche. Es ist ein Weg christlicher Mystik, die ihre Wurzeln im Johannes-Evangelium und in den Paulusbriefen hat, aber auch durch den «Heiden» Plotin kräftig gefördert wurde und in Meister Eckhart und Cusanus ihre beiden Höhepunkte erreicht hatte.
Das Wort Mystik kommt vom griechischen myein – Augen, Ohren, Mund schließen –, meint also «Rückzug aus der Welt der Sinne». Und das Gegenteil sieht man in der Kunst Dürers: Dort lebt vielmehr eine besondere Genauigkeit in der Beobachtung der Sinneswelt. In dieser Spannung liegt das Geheimnis seiner Kunst.
Die Mystik war für Dürer ein Weg zu tieferer Erkenntnis in dem Sinne, wie es später Schiller formulierte: «Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die Andern es treiben. Willst du die Andern verstehn, blick’ in dein eigenes Herz.»
Humanismus und Renaissance finden in der Kunst Dürers ihren schönsten Ausdruck. Er war ein gelehrter Künstler. Viel hat er gelernt von seinem engsten und lebenslangen Freund Willibald Pirckheimer (1470 – 1530), aber auch von Philipp Melanchthon (1497 – 1560), Konrad Peutinger (1465 – 1547) und anderen Humanisten, die ihn nicht nur als Künstler schätzten – denn er war ja nicht nur Handwerker, sondern auch Theoretiker: der erste deutsche Kunsttheoretiker. Zwar hatte er nicht an einer Universität studiert, beherrschte aber mindestens zwei «Freie Künste» (Geometrie und Arithmetik) so gut, dass er gegen Ende seines Lebens drei Bücher aus diesem Bereich veröffentlichen konnte: Underweysung der messung (1525), Befestigungslehre (1527) und Proportionslehre (1528). Das lebenslange Lernen und Lehren ist für Dürer religiös begründet: «Dorum thut der auch wol», schreibt er 1513, «der do ander Leut lernt und unterweist, das er gelernet hat. Dann er braucht sich des gottlichen Willens, der uns all unser Künnen mittheilt.»
Und Dürer war ein Forscher. Er erforschte die Welt und seine eigene Seele. Im Selbstporträt und in der Genauigkeit der Naturbeobachtung übertraf er alle seine Vorgänger. Die Landschaft, aber auch einzelne Gesteine, Blumen und Tiere gewinnen in seinem Werk einen jeweils eigenen Wert. Dies entspricht seiner Kunstauffassung, die er in dem Satz resümiert: «Wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reyssen, der hat sie.» – «Reyssen» bedeutet für Dürer so viel wie «zeichnen», ist also keine einfache Wiedergabe von Vorhandenem, sondern immer mit Gestaltung verbunden. In diesem Sinne sah auch später Goethe im Kunstschönen die «Manifestation geheimer Naturgesetze». Der liebevolle Blick in die Natur gab beiden Sicherheit auf dem Weg nach innen. Von Bernhard von Clairvaux, dem großen Mystiker des 12. Jahrhunderts, ist der Satz überliefert, er habe über Gott mehr in den Wäldern als in den Büchern erfahren. In diesem Sinne versenkte sich Dürer in die Natur, weil er auch in ihr Gott suchte; und er praktizierte dabei, was Novalis später so formulierte: Wer «zur Erkenntnis der Natur gelangen will, übe seinen sittlichen Sinn, handle und bilde dem edlen Kerne seines Innern gemäß, und wie von selbst wird die Natur sich vor ihm öffnen».