Die übelsten Unfälle geschehen im Haushalt. In Trittleitern, Fensterbänken, Küchenmessern, Herdplatten lauern Angriffe auf Leib und Leben, und die gefährlichste Tätigkeit bei der Hausarbeit war und ist für mich: Bücher abstauben. Nein, wir haben keine Galerie mit einer Fallhöhe von mehr als zehn Metern vom obersten Regal. Nicht meine Wirbelsäule ist gefährdet. In akute Gefahr geraten Termine, Verabredungen, sämtliche Pläne für die nächsten Wochen und aktuell immer das Mittagessen, die Suppe kocht über, das Gemüse brennt an.
Bei gründlicher Ausführung dieser Tätigkeit nämlich muss man jedes einzelne Buch aus dem Regal nehmen, sachte den Staub vom Buchschnitt blasen, und natürlich öffne ich das Buch und ebenso selbstverständlich lese ich mich fest.
In diesem Fall hielt ich einen vergilbten gelblichen Schutzumschlag mit etlichen Rissen in der Hand, der einen roten Leineneinband umhüllte: Else Lasker-Schüler Sämtliche Gedichte. Wie lange hatte ich nicht mehr darin gelesen? Doch sofort war die alte Vertrautheit mit Titeln und Zeilen, mit Reimen und Rhythmen wieder da. Bücher haben ein gutes Gedächtnis. Es fällt ihnen leicht, sich Seitenzahlen zu merken, denn die haben sie gespeichert in jener liebevollen Verletzung, die dem Buchrücken dort zugefügt wird, wo das Buch gar zu häufig geöffnet wurde. Also schlug dieses die Seite 88 auf und meine Augen blieben hängen an den Zeilen: Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, / An der wir sterben müssen. Ich war vierzehn, als ich das zum ersten Mal las.
Ungefährdet, da mit der Sicherheit eines Schlafwandlers, stieg ich von dem wackeligen Hocker, fühlte und sah Buch und Schrift, hörte nichts, nicht das Zischen des Kartoffelwassers auf der Herdplatte, roch nichts, nicht den strenger werdenden Duft des Spinats. Dies war kein klassischer Haushaltsunfall, der Schnitt ging tiefer als der des Küchenmessers beim Zwiebelschneiden, der Brand war glühender als bei der ungeschickten Berührung der Herdplatte, und der Sturz war zwar senkrecht, doch nicht tief, sondern hoch, denn er warf mich nach oben, die Schwerkraft stand Kopf, ich hatte Mühe, mit den Füßen den Boden wieder zu erreichen. – So geschehen beim Frühjahrsputz 1996.
Ja, ich war vierzehn, als ich dies zum ersten Mal las, und in diesem Alter pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der zu sterben so junge Menschen bereit sind, weil sie gar nicht anders leben können. Aber nun, mehr als dreißig Jahre und ein Germanistikstudium später, schlug ich die Anmerkungen auf.
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand dieses Gedicht. Was wusste diese Frau? Was ahnte sie? Im ersten Jahrzehnt dieses entsetzlichen Jahrhunderts baute sich eine Sehnsucht auf, das tödliche Verlangen nach etwas Großem, Gewaltigem, das sich dann groß und gewalttätig als Krieg entlud.
In meinem Studium ist mir Else Lasker-Schüler immer nur als Randfigur begegnet, und sie wurde beschrieben als eine weltfremde Phantastin im Kreis expressionistischer Dichter, die hinreißende Liebesgedichte schrieb.
Nun begann ich, sie anders zu sehen, ich las alle ihre Gedichte, ihre Theaterstücke, ihre Prosatexte (die so gar nicht prosaisch sind). Und darin fand ich jenen kleinen, oft bunten, glänzenden, meist runden Gegenstand, der mich auf immer mit ihr – nein, eben nicht verband – verknöpfte. Knöpfe hatte ihre Mutter ihr zum Spielen gegeben. Auch ich habe als Kind mit Knöpfen gespielt (Welche Frau, die dies liest, tat es nicht?) Auch meine hatten Namen, und damit sind meine Ähnlichkeiten mit Else Lasker-Schüler schon nahezu vollständig aufgezählt, denn meine hießen Minka, Bello und Hotte, sie waren Tiere, die ich hüpfen ließ, auf denen mein Zeigefinger ritt. Else Lasker-Schüler aber schreibt:
Ich legte Knopf an Knopf, je vier oder fünf ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf den großen Tisch und führte dann mein klein Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen.
Knöpfe als Strophen? Bunte Zeilen, glänzende Verse, Farben und Formen korrespondierend im Endreim! Und mitten unter ihnen ihr Lieblingsknopf: pechschwarz, aus Jett mit goldenen Punkten wie Sterne. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternenbesäete Knopf.
Diese Zeilen, Knopfzeilen, haben mich von da an zwanzig Jahre beschäftigt, denn dies ist die Keimzelle, Keimzeile, Keimknopfzeile meines Buches über Else Lasker-Schüler. Spontan spann ich ihren Knopfbericht weiter, es entstand ein Text, den ich meinem damaligen Verleger Gerold Anrich schickte, der leitete ihn weiter an den Sachbuchverlag Beltz Quadriga, und ich wurde gebeten, eine populärwissenschaftliche Biographie über die Dichterin zu schreiben, ein Sachbuch mit verstreuten Inseln erzählerischer Momente.
Ich machte mich begeistert an die Arbeit. Aber aus den Inseln wurden Kontinente, und der Sachbuchteil, der ein Meer hätte sein sollen, vertrocknete zur Pfütze. Ich musste einsehen, ich bin keine Sachbuchautorin. Doch den Roman wollte ich schreiben!
Das tat ich. Und während die Arbeit daran sich in meinem Leben auf mehr als zwanzig Jahre ausdehnte, schrumpfte der Zeitraum, den ich aus dem Leben der Lasker-Schüler damit beschrieb, auf etwas mehr als zwei Jahre. Warum habe ich nicht über den bunten Paradiesvogel geschrieben, als der sie, jung und schön, durch Berlin flatterte? Warum habe ich mich allein und ausschließlich der alten Frau in Jerusalem zugewandt?
Weil ich prüfen wollte, ob ich dem erzählerisch gewachsen war, und eben darum hat es so lange gedauert, weil ich erzählerisch wachsen musste. Weil ich mich so graulte vor der absurden Verliebtheit dieser alten Frau in einen so viel jüngeren Mann, bis ich sie endlich – verstand.
So lange hat es eben gedauert, bis ich sie verstand, diese Frau, diese scheinbar so entrückte, verrückte, vollkommen poetische Existenz. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die todbringende Sehnsucht erahnte, die sich selbst Josef von Ägypten nannte und in die Haut von Jakobs (der auch Israel heißt) Sohn schlüpfte, die aber nur seinen arabischen Namen Jussuf benutzte, die sich während des 2. Weltkrieges in Jerusalem für die Bildung eines binationalen Staates für Juden und Araber einsetzte.
Ich versuche in dem Buch eine Annäherung, keine Anverwandlung. Wie verschieden wir sind, erwies sich gleich damals bei meinem «Haushaltsunfall», als sie mein Leben auf den Kopf stellte: Während meine Augen an ihren Gedichten klebten, roch meine Nase doch irgendwann, dass der Spinat anbrannte. Sie – an einem solchen Wendepunkt des Lebens – hätte das Haus abbrennen lassen. Ich nahm den Topf vom Herd.