«It?s hard to be real» («Es ist schwer, wirklich zu sein»), hat J. D. Salinger einmal an Joyce Maynard geschrieben. In der Ausgabe vom 23. April 1972 des New York Times Magazine war ihr Artikel «Eine Achtzehnjährige schaut zurück auf ihr Leben» erschienen – und das Coverfoto der dunkelhaarigen Studentin, die lässig auf dem Boden sitzt, blickte fragend-verschmitzt direkt und unauslöschlich in die Augen des dreiundfünfzigjährigen Schriftstellers. Salinger, Verfasser des Weltbestsellers The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen), schreibt ihr daraufhin betörende Briefe.
Viele Jahre später erzählte Joyce Maynard den Autoren David Shields und Shane Salerno für ihren Dokumentarfilm Salinger und für ihr 2013 erschienenes gleichnamiges Buch: «Ich begegnete Holden Caulfield* nicht zum ersten Mal im Fänger im Roggen, sondern in den Briefen von J. D. Salinger. Es war diese Stimme; und wenn der Brief von jemandem geschrieben worden wäre, von dem ich noch nie gehört hätte, hätte ich dennoch auf diese Stimme reagiert. Es war genau dieselbe Reaktion, die Generationen von Lesern erlebt haben – der Eindruck, dass da endlich jemand ist, der mich kennt und versteht, wie es noch niemand je zuvor getan hat. Ich verliebte mich in die Stimme, die aus seinen Briefen sprach.»
Maynard war in einer Familie aufgewachsen, in der Worte sowie «Intelligenz, herausragendes Talent und Humor» die Religion der Familie bildeten – und all das fand sie nun in Salingers Stimme.
Nach regem Briefwechsel und ersten Begegnungen zieht die Studentin zu dem älteren Schriftsteller, der zurückgezogen auf einem bewaldeten Hügel in New Hampshire lebt, abseits des ruhmsüchtigen, eitlen Rummels der Weltmetropole New York. Während sie ihr Studium an der Yale University abbricht, um bei Salinger zu wohnen, schreibt sie auch ihr erstes Buch, Looking Back – A Chronicle of Growing Up Old in the Sixties, aber sie darf nichts erzählen von ihrem Leben mit Salinger, so sehr hütet er sein Privatleben und so sehr verabscheut er jegliches öffentliche Interesse an seiner Person.
Das, was sie zutiefst bewegt, die Begegnung und das Leben mit diesem außergewöhnlichen, auf seine innere Entwicklung und sein schriftstellerisches Schaffen so bedachten Mann, muss sie verschweigen und sich zuletzt selbst verleugnen. Nach neun Monaten, als sie zusammen in Florida am Strand von Daytona einige Tage mit seinen zwei Kindern aus zweiter Ehe verbringen, bricht er die Beziehung ab, gibt ihr zwei 50-Dollar-Scheine und schickt sie nach Hause. Er könne nicht, wie sie den Wunsch einmal äußerte, mit ihr weitere Kinder in die Welt setzen.
Wer ist dieser Jerome David Salinger, der am 1. Januar 1919 in New York als Sohn einer zum Judentum konvertierten Katholikin und eines Juden geboren wurde und den seine Familie, seine Freunde und etliche Liebhaberinnen nur Jerry nannten?
Seine Schulausbildung bricht er ab – wie sein jugendlicher Held Holden Caulfield. Er wird Soldat, dient als Staff Sergeant im «12th Infantry Regiment» der US Army, erlebt seinen ersten Einsatz am D-Day, dem 6. Juni 1944, am «Utah Beach» bei der Landung der Alliierten in der Normandie. Von den 3.100 Soldaten, die diesen Strandabschnitt stürmen, überleben bis Ende Juni nur etwa 600. An mehreren Schlachten nimmt Salinger noch als Mitglied des «Counter Intelligence Corps» teil, und vor allem ist er Zeuge der von den Nazis verübten Gräuel in Kaufering, einem Nebenlager von Dachau.
Als der Krieg endlich zu Ende geht, liefert er sich selbst in ein Krankenhaus in Nürnberg ein, weil er empfindet, dass er am Rande eines psychischen Zusammenbruchs steht, und handlungsunfähig ist. Er ist im Nachkriegsdeutschland als Sonderermittler des amerikanischen Geheimdiensts beim Aufspüren von leitenden Nazis tätig und lernt die deutsch-französische Studentin Sylvia Welter kennen, die er sogar am 18. Oktober 1945 heiratet und die nach seiner ehrenhaften Entlassung im Mai 1946 mit ihm nach Amerika geht.
Nach einem Monat in den USA jedoch findet Sylvia eines Morgens ein Flugticket nach Deutschland vor, das auf ihrem Frühstücksteller liegt. Wie Eberhard Alsen in dem Buch von David Shields und Shane Salerno berichtet, schreibt Salinger «aus Daytona Beach,
Florida, dass Sylvia und er sich getrennt hätten und seine Ehe gescheitert sei, weil die Beteiligten sich gegenseitig ‹zutiefst unglücklich gemacht hätten›». Vielleicht hatte er erfahren, dass sie möglicherweise als Informantin der Gestapo gedient hatte und deshalb an
den Universitäten von Erlangen, München, Prag, Königsberg, Freiburg und Innsbruck immatrikuliert war.
Während des Krieges aber hat Salinger die sechs ersten Kapitel seines künftigen Romans Der Fänger im Roggen in der Tasche; er trägt sie wie ein Talisman, der ihn schützt: Denn er fühlt, dass es seine eigentliche Berufung ist, Schriftsteller zu werden.
Shields und Salerno sind in ihren Feststellungen über dieses seltsame Leben und Schaffen Salingers des Öfteren sehr krass: «In Salingers Leben gab es zwei entscheidende Wendepunkte: den Zweiten Weltkrieg und seine Hinwendung zum hinduistischen Vedanta. Der Zweite Weltkrieg zerstörte den Menschen und erschuf einen großen Schriftsteller. Die Religion gab ihm den Rückhalt, den er brauchte, und zerstörte sein literarisches Talent.»**
Wäre ich Mitte der Fünfzigerjahre in Amerika geboren, hätte ich sicherlich den Fänger im Roggen als Jugendlicher gelesen und mich wohl verstanden gefühlt. Da ich aber in London geboren wurde und aufwuchs, fehlte mir diese frühe Begegnung mit der Stimme Holden Caulfields. Erst die Bekanntschaft mit dem Roman Everything happens today des ebenfalls in New York lebenden Autors Jesse Browner brachte mich mit Salingers Klassiker in Berührung. «60 Jahre nach Erscheinen von Der Fänger im Roggen bringt Jesse Browner in seinem Roman Alles geschieht heute Holden Caulfield auf den neuesten Stand, ja übertrifft Salinger vielleicht sogar mit seiner witzigeren, freundlicheren und weiseren Geschichte.» So schrieb es ein amerikanischer Rezensent auf der Internetseite Shelf Awareness. – Ob der Vergleich letztlich stimmt, ist nicht entscheidend – beide Coming-of-age-Romane kennenzulernen ist eine Bereicherung, und der eine führte mich zu J. D. Salinger, dieser so rätselhaften Gestalt des 20. Jahrhunderts.
Einmal sagte Salinger jemandem, der sehr viel mehr Informationen über sein Leben zu erhalten wünschte, er brauche nur die Geschichten in dem 1953 erschienen Band Neun Erzählungen genauer zu lesen. Darin sei alles Wesentliche bereits enthalten. Zutiefst bewegend für mich war darin die Erzählung Für Esmé – in Liebe und Elend. Wirklich werden – das kann kein Mensch, ohne Liebe und Elend erlebt zu haben.