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Jürgen Raßbach

Treffpunkt Galgenberg

Nr 171 | März 2014

«Nur wer sich wandelt, bleibt mir verwandt»

Christian Morgensterns nur knapp 43 Jahre währendes Leben war ein «Wanderleben». Das war sowohl seiner heftigen Abneigung gegen jede Art von bürgerlicher Häuslichkeit geschuldet als auch seinem «Leidenserbe», der von der geliebten, frühverstorbenen Mutter überkommenen Lungentuberkulose, die ihn schon früh dazu zwang in immer kürzeren Abständen Orte mit reiner, möglichst trockener Luft aufzusuchen, meist in den Alpen. Dass er sich dennoch nicht als im eigentlichen Sinne «krank» sah, sondern als «leidend», mag uns befremden, weil wir es für Wortklauberei halten könnten. Es entsprach aber seiner innersten Überzeugung, wenn er schrieb: «Ich möchte den Satz aufstellen: kein wahrhaft freier Mensch kann krank sein. Im Innersten mit-leidend» sei er, «aber wahrhaftig nicht mit-krank …»
Angesichts dieser nomadisierenden Lebensform nimmt es nicht Wunder, dass es bis zum Jahre 2007 keine einzige Stätte gab, die sich um die Erinnerung an diesen bedeutenden Dichter gekümmert hätte. Dass es das Havelstädtchen Werder war, das mit der Eröffnung einer Dauerausstellung zu Leben und Werk Christian Morgensterns und der Einrichtung der Veranstaltungsreihe Treffpunkt Galgenberg diesen eklatanten Mangel beseitigte, löst bei den Besuchern immer wieder Nachfragen aus, worin denn die Berechtigung für eine derartige Inanspruchnahme liege. Der Bezug Werders zu Morgenstern beruht auf einem Brief an einen namentlich nicht genannten Redakteur aus dem Jahre 1913: «Die ersten Galgenlieder entstammen noch den neunziger Jahren und entstanden für einen lustigen Kreis, der sich auf einem Ausflug nach Werder bei Potsdam, allwo noch heute ein sogenannter Galgenberg gezeigt wird, wie das so die Laune gibt, mit diesem Namen schmücken zu müssen meinte …»
Recherchen vor Ort haben ergeben, dass dieser Besuch Ende April 1895 stattgefunden hat und dem damals schon gefeierten Blütenfest galt, zu dem auch viele Berliner kamen. Aus der Reichshauptstadt war auch der «lustige Kreis» angereist, junge Männer, Künstler, Intellektuelle, gemeinhin Bohemiens genannt. Sie ließen sich vom süffigen Obstwein und der Aura der einstigen Richtstatt inspirieren und gründeten den Bund der Galgenbrüder, für dessen schaurig-groteske Zusammenkünfte das «Rabenaas» Morgenstern die Texte schrieb, eben die ersten Galgenlieder.
Der Dichter betont allerdings, dass sich die Konzeption dieser Gedichte stark veränderte, aber das «geistige Band des Humors» habe sie doch zusammengehalten. Humor schreibt er weiter, habe die «Mission … im Menschen den dumpfen trübseligen Ernst, in den ihn eine materialistische Gegenwart verstrickt hält, ein wenig aufzulockern, anzubröckeln … die im Posthorn gefrorene Musik der Seele wieder aufzutauen …»
Manche Interpreten bewerten Morgensterns umfangreiche ernste Lyrik kritisch, das gilt besonders für die in den letzten Jahren aus der Begegnung mit der von Rudolf Steiner vorgetragenen Anthropo­sophie entstandenen Gedichte des Bandes Wir fanden einen Pfad. Wer sich intensiv mit Morgenstern beschäftigt, dem wird allerdings klar, dass er es mit einer Künstlerpersönlichkeit zu tun hat, der es bei allem, was sie poetisch schuf, um Wahrheit ging.
Für die Werderaner ist es selbstverständlich, den ganzen Morgen­stern zu zeigen; nur so kann man eine wirkliche Begegnung mit diesem großen Dichter und Wanderer stiften, der «immer dem Wort nachleben wollte», das der römische Satiriker Juvenal geprägt hat: vitam impendere vero – das Leben für das Wahre drangeben.