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Alfons Limbrunner

Mit Brüdern und Schwestern

Nr 179 | November 2014

Es gibt Bücher, die begleiten einen längere Zeit, manchmal sogar ein halbes Leben lang. Wenn man Menschen danach fragt, welche Titel und Autoren das sind, hört man höchst verschiedene, eben ganz individuelle Antworten. Das ganze Spektrum der großen Literatur und Dichtkunst taucht hier auf. Vermutlich kämen wenige auf die Idee, ein Sachbuch zu nennen. Fragte man mich, so fallen mir, vom Umfang her ziemlich schmale Bücher, eher Büch­lein, ein: Romano Guardinis Die Lebensalter und Karl Königs Brüder und Schwestern.
Irgendwie, so empfinde ich, sind diese beiden Werke, das des katholischen Religionsphilosophen und das des anthroposophischen Arztes und Heilpädagogen, vom Inhalt und der Sprache her sogar verschwistert. Das eine ist 1967 erschienen, das andere 1964. Beide Schriften sind für mich literarische Evergreens, Bücher von jener Sorte, die ich von Jahr zu Jahr den Studierenden der Sozialen Arbeit empfohlen habe und gern «fürs Nachtkastl» verschenke.
Die Bücher Karl Königs werden seit einigen Jahren in einer Werk­ausgabe des Karl-König-Archivs Berlin neu herausgegeben. So auch sein Buch Brüder und Schwestern, das dadurch auch Doku­mente und Materialien enthält, die einen Einblick in den Ent­stehungsprozess gewähren.
Der Arzt und Heilpädagoge Karl König, Gründer der Camphill Bewegung, war ein Visionär, ein Mensch nicht nur der Tat, sondern auch des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Die Stellung des behinderten Menschen in der Gesellschaft, der Angriff auf die Würde und Integrität des Menschen forderten
ihn immer wieder zu mündlichen und schriftlichen Stellung­nahmen heraus. In Hunderten von Aufsätzen und etlichen Büchern stellte er seine umfassenden Interessen unter Beweis. Brüder und Schwestern – Geschwisterfolge als Schicksal nimmt darin einen be­sonderen Platz ein.
Bereits 1957 begann König, sich systematisch mit der Thematik zu beschäftigen und notierte am 10. November: «Suche fast vergeblich nach Literatur über den Einfluss der Ge­schwister aufeinander während der Kindheit. Aber die Frage­bogen, die ich diesbezüglich unter den Mitarbeitern verteilt hatte, werden doch schrittweise ein sehr aufschlussreiches Material. Es zeigt, je mehr ich es zu lesen beginne, dass es doch grundlegende Charakterzüge für das erste, zweite, usw. Kind gibt. Das erste Kind erscheint mir nun immer mehr im Bild des Janus. Es hat ein Gesicht nach den Eltern, das andere nach den Geschwistern gerichtet und ich erhoffe mir aus diesem Bild, noch mehr Auf­klärung und Einsicht zu gewinnen.» – Einen Tag später schrieb er: «Im zweiten Teil versuche ich, die
allgemeinen Charakteristika des ersten Kindes darzustellen. Bei der Beschreibung, wie es sich dem zweiten gegen­über verhält, eröffnet ein Wort mir einen völlig neuen Blick. Denn als ich schreibe, dass er seine Stellung ‹verteidigen› muss, bringt das Wort ‹defender› die ganze Welt des ersten Kindes mir nahe. Es muss bewahren und erhalten; es muss, auch wenn es nicht will, ein Vertreter und Verteidiger dessen sein, was Tradition ist.»
Versucht man heute das Stichwort «Geschwisterbeziehung» zu «googeln», so erhält man rund 50.000 Treffer. Ob das Interesse an dieser Thematik mit der sinkenden Geburtenquote in den reicheren Industrienationen – mit dem Trend zum einzigen Kind – zu tun hat, bleibt dahingestellt. Königs Arbeiten zu Brüder und Schwestern haben auch nach über fünfzig Jahre nichts an Aktualität eingebüßt. Denn wir alle sind entweder einziges oder erstes, zweites, drittes oder viertes Kind. Damit sind Aufgaben und Schicksalsfügungen verbunden, die uns auch etwas über die Sinnhaftigkeit unserer Existenz enthüllen können.