Yaroslava Black-Terletska

Was heißt hier lieben?

Nr 188 | August 2015

Von verliebten und anderen seltsamen Paaren

Über die Liebe zu schreiben in einer Zeit der Vereinzelung und Aufspaltung, in der das Ich zum Hauptwort geworden ist und das Wir meist nur ein peinliches Lächeln entlockt, ist nicht einfach. Ja, diese Zeit … Das Zeitphänomen der Zeitlosen, in der die Liebe in den Filmen zur Entspannung am Wochenende so gezeigt wird, wie wir sie im Alltag oft aus Zeitmangel nicht mehr leben. Jeder sehnt sich danach, geliebt zu werden. Aber selbst jemanden zu lieben, sich zu geben, zu schenken oder einfach da zu sein – still und anwesend? Weil die Menschen aus Liebe stammen, müssen sie lieben. So einfach war es für Thomas von Aquin. Amor naturalis ist wohl das natürlichste unserer Gefühle und gleichzeitig das schwierigste.
Meine Gedanken wurden unterbrochen von einem lautem Auf­schrei: «Blödsinn!» Da saß sich ein Paar im Zug gegenüber, und jeder starrte in ein aufgeklapptes Notebook. «Blödsinn!», sagte er nochmals nachdrücklich. «Die Länge der Lichtwellen in deinen prismatischen Berechnungen – das ist Quatsch. Warum kannst du es nicht so schreiben, wie es aus dem Experiment abgeleitet wurde? Das war doch eine klare Sache!» Er war verärgert, und das konnte er weder hinter dem feinen Anzug noch im weichen nieder­ländischen Klang seiner Sprache verbergen. «Du musst an die Auf­spaltung von weißem Licht in die Spektralfarben durchs Prisma anknüpfen.» Ihre Augen durchbohrten den Bildschirm. Sie sprach mehr zum Computer als zu ihm: «Nein, so ist es nicht. Außerdem hängt die Geschwindigkeit der Lichtfrequenzen nicht von der Strahlungs­intensität ab, sondern nur von der Farbe. Und unsere englische Kollegin sagte …» Sie las eine längere Passage in Englisch vor, und ihre blond gefärbten Locken fielen ihr ins Gesicht und verfingen sich in der Hornbrille. Sie trugen dieselben Eheringe – doch kein liebevoller Blick wurde getauscht. Sie verschwanden in ihrem Thema: Ist Licht eine Welle oder ein Teichen? Oder vielleicht etwas noch Kleineres: das Spannungsfeld zwischen seinem und ihrem «Weltschirm»? Das Paar fuhr zu einer wichtigen Konferenz: als Arbeitskollegen und als Eheleute – sie bewegten etwas miteinander. Ist nicht die menschliche Bewegung und jegliche Strebekraft die Liebe?
Draußen verschwand die Sonne langsam hinter dem Zugfenster und färbte den Himmel in großzügigen Wellen von Orange, Rosa und Violett. In diesem Farbspektrum waren gewiss unzählige Teilchen des Glücks verborgen. Zerstreut – einfach so. Es war verschwenderisch und nicht von Dauer. Bei diesem Anblick erinnerte ich mich plötzlich an meine Großeltern – und sie waren auf einmal nicht weniger real als meine Nachbarn im Zugabteil. Sie kamen aus einer anderen Zeit. Sie hatten ganz andere Beweggründe für ihre Beziehung.

Als Anna durch die Wiesen lief, lag Ivan auf dem Bett und hustete Blut. Sie wollte noch ein paar Kräuter finden, die ihm Linderung verschaffen konnten, bevor die Sonne unterging. Sie hatte ihn nach Hause geholt. Die Ärzte hatten ihr Urteil gesprochen, und er spürte, wie sich die Tuberkulose in seinen ganzen Körper hineinbohrte. Auch ohne die klugen Worte der Weißkittel zu verstehen, begriff sie, dass sie ihm nicht mehr helfen konnten. Die Zeit war bemessen. Der Arzt warnte sie vor einer möglichen Ansteckung. Angst? Warum? Sterben wir nicht alle? Doch die Zeit bestimmen nicht die Herren Doktoren, das tut nur Gott allein, sagte sie. Die Männer lächelten einander mitleidig an – so sind sie, die ungebildeten Menschen, die armen.
Anna konnte nicht studieren, und als Ivan sie heiratete, war sie gerade mit der Dorfschule fertig. Er war groß und stark, mit strohfarbenen Haaren, und konnte sie mit Leichtigkeit in die Luft heben. Seine Augen ähnelten dem sommerlichen Gewitterhimmel und glänzten und blitzten wie bei einem Schelm oder jemandem, der das Leben liebt.
Nun empfand Ivan keine Sehnsucht mehr, doch eine drängende Daseinslust und ein drückendes Bedürfnis nach Heilung seines ausgezehrten Körpers. Auch wenn er wusste, dass die alldurch­wärmende Sonne nur vorübergehend, nur für die Nacht sich abwendet, fröstelte es ihn an diesem Sommerabend. Es war auch in einem heißen Sommer, in dem er Anna und ihre vier Kinder auf eine Pferdekutsche setzte, um die Heimat für immer zu verlassen. Anna weinte. Die Kleinen wimmerten, die Größeren starrten mit weit aufgerissenen Augen zurück zu ihrem Haus, das immer kleiner wurde. Langsam verschwand es im Grün der Bäume, und mit ihm verschwand auch ihr Land, ihr Feld und schließlich auch die Großstadt Jaroslaw mit dem bekannten Bauernmarkt, den sie nie wieder besuchen würden. Wer hatte sich das nur ausgedacht und zu welchen Zweck: Polen für Polen, Ukraine für Ukrainer, Israel für Juden? Lebten sie nicht alle zuvor zusammen in diesem gesegneten Land Galizien – Zaun an Zaun, Feld an Feld, Gasse an Gasse? Tauschten sie nicht ihre Hühner und ihr Leid miteinander? In der Schenke gab es hin und wieder hitzige Wortwechsel, meistens über Religion. Doch dann spielte die Musik, und es gab für alle einen kräftigen, selbst gebrannten Trunk des Vergessens.

Anna durchstreifte in der Dämmerungsluft die reifen Feldern und pflückte Johanniskraut, auch «Christi Kreuzblut», «Christi Wunderkraut», «Gottesgnadenkraut», «Johannesblut» genannt. Den Namen Hypericum perforatum kannte sie nicht. Wichtig war, dass Ivan schlafen konnte. Sie suchte auch noch Huflattich für seine Lunge: Tussilago farfara – ein Trompetenklang der Heilung. Nun brauchte sie unbedingt noch Kalmuswurzel, denn von ihr versprach sie sich große Wunderwerke. Auch die Nachbarin schwor, von ihren Lungenbeschwerden durch das Kauen an der bitteren Wurzel und dem täglichem Trinken von Kalmus-Tee geheilt worden zu sein.
Ivan lag da und hörte den Uhu im Nussbaum schreien. Er bezeugte die Niemandsland-Zustände seines Lebens, die zerfallenen Träume, die in den sibirischen Lagern zerstampft wurden. Anna brachte ihm ein Glas Wein mit den Kräutern und setzte sich zu ihm. «Iva, wartest du auf mich?» – «Immer, meine Annka.» – «Auch dort?» – «Dort besonders gerne!» – «Dort gibt es keine Zeit, oder?»
Sie schauten einander an. «Wir hatten es gut, nicht?» – «Ja, doch!» – «Weißt du noch, als wir alles verloren haben?» Er schaute an die Wand, auf der ihre Schatten vom flackernden Kerzenlicht tanzten. «Wir haben aber auch viel bekommen!» Ivan kaute an der Kalmuswurzel und streichelte Annas Hände auf seiner Brust.
Der Zug, in dem wir alle saßen, wurde langsamer. Bald würden wir ankommen, jeder mit seinen Fragen, ungelösten und weltbewegenden. Meine Frage: «Was heißt hier lieben?» braucht noch einige Züge und viele Stationen. Am Bahnhof kam eine Ahnung: Liebe ist das A und das O aller Bewegung.