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Günther Dellbrügger

Wer bin ich und wie finde ich es heraus?

Nr 190 | Oktober 2015

Alle Entwicklung im Menschen geschieht durch Begegnung und Teilhabe. Besonders das Kind braucht die Wahrnehmung des anderen Menschen als Partner, in dem sich das eigene dumpfe Ich-Gefühl durch das Ich des Erwachsenen erweitert. Es ist auf Dialog angewiesen. Das Ich des anderen Menschen spiegelt das eigene Ich als Potenz, als Zukunft. Es wirkt als Lebens­wirklichkeit, durch die der Mensch zu seinem eigenen wahren Ich-Wesen ahnend erwacht.
Auch die Sprache wird als Medium neu erlebt, Erfahrungen werden geschildert und werfen Fragen nach Verarbeitung auf: Warum war das so? Das Kind, getragen von der Sprache, in der es aufge­wachsen ist, findet zum bewussten Sprechen. Gleichzeitig vertieft sich das Hören zu einer neuen Haltung. Es werden die Intentionen des Anderen ertastet und erleuchtet: Ist der Andere ehrlich? Meint er es gut? Erfahre ich von ihm Respekt?
Die Suche nach einer neuen Identität kann sich in jedem Fall nur am wahrnehmenden, sprechenden und agierenden Gegenüber entfalten. Das Kind braucht den Erwachsenen wie eine Brücke. Denn die Urverbundenheit des Kleinkindes mit der Welt («Vater bin ich, Mutter bin ich, Sonne bin ich, alles bin ich» – so ein etwa vierjähriges Kind) ist verschwunden wie ein Regenbogen.
Jetzt ist das Kind darauf angewiesen, die Welt zunächst als Inhalt des Lebens des Erziehenden kennenzulernen. In dessen Verant­wortung liegt es, ob das Kind später durch ihn zum guten Ge­brauch der eigenen Freiheit finden kann. Indem der Erwachsene für sich selber nach dem Sinn seines Lebens sucht, zündet er ein Licht an. Dieses Licht kann dem älteren Kind ein Spiegel werden. Indem es das Licht des Erwachsenen erlebt, erwächst in ihm Lebensmut.
Die Vorstufe zum eigenen Handeln ist die Einfühlung, die Empathie. Das Kind will – sich damit identifizierend – hin­ge­bungs­voll in den anderen eintauchen und miterleben, «wie Handeln geht». Es erlebt menschliches Handeln mit, um es daran selber zu erlernen.
Doch das geht keineswegs reibungslos. Denn um das zehnte Lebensjahr beginnt eine Krise: Das Kind erfährt sein Willensleben neu: als «Nacht», als Labyrinth, als hinter einer verschlossenen Tür verborgen, für das Bewusstsein unzugänglich.
In dieser Phase braucht das Kind Leitbilder, es braucht die Wirk­lichkeit eines anderen sprechenden und handelnden Ich, um dem «dunklen Grund» etwas entgegenzusetzen. Das Kind sucht im anderen Ich Quellen des Handelns, aus denen heraus es selber sein Verhalten mehr und mehr lenken kann. Darin liegen der hohe Auftrag und die Würde der Erziehung. Denn der Begegnungsraum zwischen Kind und Erwachsenem kann Zukunft vorbereiten und eröffnen. In den Jahren ab dem 9. Lebensjahr möchte der Stern des Kindes neu aufleuchten, bevor er zumeist in den Jahren der Pubertät noch einmal verschwindet. Das Gewissen als Zukunfts­pfand wird in diesen Jahren veranlagt.
Der Arzt Hans Müller-Wiedemann schrieb einmal in einem Brief «aus der Seele des Kindes in der Mitte der Kindheit», der sich an die Er­wachsenen richtet: «Erzieht mich nicht nach dem Muster, nach dem euch eure Eltern erzogen haben … Ich möchte ver­stehen lernen, wie ein Mensch dem anderen helfen kann, und was einer dem anderen bedeutet … Macht euch kein Bild von mir, aber habt Vertrauen in mich … Die Welt ist nicht immer schön, aber sie ist wichtig für mich. Jede menschliche Beziehung in ihr ist wichtig.»