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Jakob Streit

Kindheitslegenden

Nr 193 | Januar 2016

gelesen von Simone Lambert

Das Neue Testament enthält außer der Weihnachtsgeschichte nur eine weitere Begebenheit aus der Kindheit Jesu, die Geschichte vom Zwölfjährigen im Tempel.
Die frühen Christen hat die Informationslücke von 30 Jahren zwischen der Geburtsgeschichte und dem Wirken des erwachsenen Jesus nicht gestört; im Mittelalter aber wurden aus den Apokryphen die Kindheitslegenden zusammengestellt. Sie sind ein Produkt der Volksfrömmigkeit, des Wunsches, sich ein Bild zu machen. Historisch sind sie nicht belegt.
Jakob Streit hat einige Legenden ausgewählt und erzählt sie für Kinder. Es sind die Hirten, die Heiligen Drei Könige, die Erlebnisse auf der Flucht, die Zeit in Ägypten und die Wunder nach der Rückkehr in Nazareth, von denen er berichtet – mild, warm, weich, zart. Poetische Schilderungen vom Glühwürmchen und den silbrig schimmernden Fischschuppen, die ihr Licht von den Engeln oder Sternen haben, von der Nachtigall, deren betörender Gesang Mariens Wiegenlied für das Jesuskind nachahmt, verbinden Jesus sogar mit Schönheit und Fruchtbarkeit in der Natur, die Kinder gerade erst entdecken.
Selbst das Kind Jesus ist bereits wundertätig. Das leprakranke Mädchen verliert den Aussatz und gesundet. Das Kind bestraft den Spielverderber und erweckt ihn von den Toten. Das Korn, das der kleine Jesus gesät hat, vermehrt sich wundersam und niemand muss Hunger leiden. Diese erstaunlichen Taten, vom Kind mit Selbstverständlichkeit vollbracht, als könne es nicht anders, reflektieren die Wunder, die er als Erwachsener vollbringen wird. Und seine Begegnungen weisen auf die Passion, die er auf sich nehmen wird.
Jakob Streit schildert das Jesuskind als vom ersten Moment an fähig zur Sprache, zum aufrechten Gang, zum Handeln. Übrigens gleicht dies der Jesusdarstellung im Koran ebenso wie der Kindheitslegende Buddhas.
Von Anfang an folgt das Kind seinen eigenen Gesetzen. Das zeigt sich zunächst den Eltern und Erwachsenen gegenüber, später dann vor dem (religiösen) Gesetz. Seine Autonomie widerspricht der bestehenden Macht- und Rechtlosigkeit der Juden.
Man mag den Legenden vorwerfen, sie idyllisierten den Gottessohn, der ja ein Menschensohn war, denn sie vermitteln kein klares Bild seiner menschlichen Persönlichkeit. Man kann ein wundertätiges Jesuskind nicht lieben, wie man einen anderen Menschen liebt. Doch die Legenden sind nicht der Versuch, einen emotionalen Zugang zu Jesus zu finden, sondern sie zeigen seine Wirkung. Von Jesus geht Ansteckung aus: Nächstenliebe, Mitgefühl und gerechter Zorn, die seinem Handeln zugrunde liegen, wirken viral. Die ihn nur sehen, sie wandeln ihr Leben: sie gesunden, helfen, leben und erzählen davon. Heute will man Ansteckung vermeiden; man hält sich von Kranken fern, um Viren zu entgehen, man lässt sich impfen, um sich zu immunisieren. Aber es gibt auch positive Ansteckung. Streits Kindheitslegenden öffnen das Herz für eine solche Ansteckung. Dieser Mensch, der andere im Kern erreichte und ihr Leben änderte, soll Kinder mit dem Abglanz seines Wesens motivieren, das Leben eines Christen zu leben.
Was dieses Virus mit Kindern macht, konnte man am Gesicht des kleinen Buben sehen, dem sein Vater erklärte, die Blumen, niedergelegt am Ort der Massaker in Paris vom 13. November, würden gegen die Waffen der Attentäter helfen. Es wurde wieder froh.


Jakob Streit hat Legenden aus dem Leben Jesu ausgewählt und erzählt sie für Kinder – mild, warm, weich und zart.