Astrid Frank

Gemeinsam einsam

Nr 198 | Juni 2016

Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Raum voller Menschen betreten. Sie öffnen die Tür und alle Gesichter, vielleicht zwei Dutzend, wenden sich Ihnen zu. Fragend. Neugierig. Offen. Freundlich. Lächelnd. Die Blicke laden Sie ein, näherzutreten, teilzunehmen an der Gemeinschaft. Wie fühlen Sie sich? Willkommen? Angenommen? Gesehen? Respektiert? Wahrgenommen? Geschätzt?
Und jetzt spulen wir noch einmal zurück auf Anfang: Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Raum voller Menschen betreten. Sie öffnen die Tür und alle Gesichter, vielleicht zwei Dutzend, wenden sich Ihnen zu. Stirnrunzelnd. Desinteressiert. Verschlossen. Abweisend. Angewidert. Missbilligend. Wie fühlen Sie sich jetzt? Niemand hat Ihnen ein Leid zugefügt. Nicht einmal ein böses Wort wurde an Sie gerichtet. Und dennoch reichen wohlmeinende oder ablehnende Blicke aus, um ein positives oder negatives Gefühl in uns hervorzurufen.
Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, findet Inter­aktion statt. Verbale oder non-verbale Kommunikation. Selbst fehlende Interaktion kann eine Form des Austauschs von Meinungen und Gefühlen sein. Als sozial denkende und fühlende Lebewesen brauchen wir die Gesellschaft anderer, um uns durch sie wahrnehmen, spüren, erleben zu können. Unser Selbstbild wird gespeist durch das, was uns andere über unsere Wirkung auf sie widerspiegeln. Werden wir angenommen oder zurückgewiesen? Und was geschieht mit uns, wenn unser Selbstbild durch die Ablehnung anderer geprägt wird? Können wir uns dann selbst noch als liebenswert wahrnehmen?
Und nun ein weiteres Mal zurück auf Anfang: Im ersten angenommenen Fall entschließen Sie sich, den Raum zu betreten. Ebenfalls lächelnd und allen Anwesenden freundlich zunickend – ein Teil von ihnen, ein Teil dieser Gemeinschaft.
Im zweiten angenommenen Fall werden Sie sich - wenn Sie die Wahl haben! – vielleicht dafür entscheiden, die Tür lieber wieder zu schließen. Und zwar von außen. Denn warum sollten Sie sich freiwillig unter Menschen begeben, die Ihnen offensichtlich nicht wohlgesonnen sind, die nicht wünschen, dass Sie einen Teil ihrer Gemeinschaft darstellen?

Was aber geschieht, wenn Sie nicht frei entscheiden können, ob Sie den Raum betreten wollen, in dem zwei Dutzend Menschen Sie feindselig mustern? Was, wenn Sie den Raum betreten müssen? Dann tun Sie es vermutlich mit gesenktem Blick. Sie werden sich davor scheuen, anderen in die Augen zu sehen, aus denen Ihnen so viel Ablehnung entgegenströmt. Sie versuchen möglichst unauffällig zu sein. Sie setzen sich still auf einen Platz in der hintersten Ecke. Sie versuchen, das Augenverdrehen der anderen zu ignorieren und die geflüsterten Bemerkungen über Ihr Aussehen zu überhören, während Sie hoffen, so schnell wie möglich von hier verschwinden zu können. Vielleicht zittern Ihre Hände sogar ein wenig. Oder Ihr Herz schlägt schneller, Sie fangen an zu schwitzen und verspüren Übelkeit. Sie mustern verstohlen die Reaktionen der anderen. Galt das Aufstöhnen des Mannes in der ersten Reihe Ihnen? Lacht die Frau dahinter über Sie? Warum rümpft der Mensch unmittelbar vor Ihnen die Nase, als würde es plötzlich unangenehm riechen? Ihre Wahrnehmung verengt sich. Alle Eindrücke werden daraufhin geprüft, ob sie etwas mit Ihnen zu tun haben, ob es sich um einen Angriff auf Ihre menschliche Würde und Integrität handelt. Und Sie atmen erleichtert auf, wenn Sie diesen Raum endlich wieder verlassen können. Für heute. Denn morgen früh werden Sie sich wieder in diesen Raum begeben müssen. Und übermorgen. Und überübermorgen.
Für 500.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland bedeutet das geschilderte Szenario Alltag. Jeden Morgen stehen sie vor der Tür eines Klassenzimmers, das sie aufgrund bestehender Schulpflicht betreten müssen, obwohl sie es eigentlich nicht wollen. Denn sobald sie die Tür öffnen, prallt ihnen geballte Ablehnung entgegen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat – manch­mal über Jahre hinweg. Gewalt ist hier nicht im Spiel. Oder doch? Denn wo beginnt «Gewalt»? Bei einem Schlag? Bei einem bösen Wort? Oder ist es auch eine Form von Gewalt, von Machtmissbrauch, wenn wir jemanden systematisch aus unserer Gesellschaft ausschließen? In einigen Kulturen Afrikas zum Beispiel gilt der Ausschluss aus der Familie als Bestrafung. Der Ausgestoßene hat keinerlei Rechte mehr. Nicht einmal das Recht auf Beerdigung. Verhängt wird diese Strafe für ein schwerwiegendes Vergehen, das den Werten und Regeln der Gesellschaft nicht entspricht.

«Was habe ich getan, dass ich eine solche Behandlung verdiene?», ist daher auch die Frage, die sich von Mobbing betroffene Kinder und Jugendliche in Deutschland stellen.
«Ich bin nicht liebens- und nicht lebenswert», sagte mein damals vierjähriger Sohn zu mir, nachdem er über einen Zeitraum von zwei Jahren kontinuierlich von den Jungen und Mädchen in seiner Kindergartengruppe ausgegrenzt worden war. Und seine Schlussfolgerung war: «Es wäre besser gewesen, wenn du mich nie geboren hättest.» – Was für ein schmerz­voller Satz für ihn. Für mich.
Was das tagtägliche Gefühl des Nicht­dazugehörens mit unserem Selbstwertgefühl macht, ist leicht vorstellbar. Mein Sohn etwa dachte, er wäre der Kleinste in seiner Gruppe. In Wahrheit war (und ist) er der Größte.
Bis heute, fünf Jahre später, sind Dinge, die ihm gelingen, «babyleicht». «Kann doch jeder!» Scheitert er hingegen an einer Aufgabe, ist er dafür «einfach zu blöd».
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Raum voller Menschen. Jemand öffnet die Tür und alle Gesichter, vielleicht zwei Dutzend, wenden sich dem Neuankömmling zu. Auch das Ihre! Was tun Sie?
Mobbing ist keine Angelegenheit zwischen Opfer und Täter. Es beginnt auch nicht beim Opfer, sondern beim Täter und bei dessen Bedürfnis nach mehr Anerkennung und Macht innerhalb der Gruppe. Ermöglicht aber wird es erst durch das Verhalten der Gruppe! Und die Gruppe? – Das sind wir!
Also lesen Sie in Ruhe zu Ende, klappen Sie das Magazin zu, machen Sie einen wunder­vollen Spaziergang und ... lächeln Sie. Laden Sie Ihre Mitmenschen mit einem stummen Willkommen im Blick ein, Teil Ihrer Gesellschaft zu sein! Mehr bedarf es manchmal nicht für eine etwas bessere Welt.