Fritz Senn im Gespräch mit Jean-Claude Lin und Evelies Schmidt

Finnegans wachen donnerstags auf

Nr 222 | Juni 2018

Am 16. Juni feiern viele den Bloomsday – in Dublin und anderen Städten weltweit. James Joyce’ Roman «Ulysses», dem dieser Tag zu verdanken ist, wird prozentual wohl in Zürich am meisten gelesen. Kein Wunder. Denn dort steckt Fritz Senn, 1928 in Basel geboren, seit Jahrzehnten mit seiner Begeisterung an. Dienstags und donnerstags. Auch für «Finnegans Wake».

Jean-Claude Lin | Lieber Herr Senn, es heißt, Sie sind der ideale Joyce-Leser. Wie sind Sie dazu gekommen?
Fritz Senn | Man darf nicht alles glauben, was gesagt wird. Ich bin lange dabei gewesen, habe einiges geschrieben und wollte damit andern den Zugang zu Joyce erleichtern. Joyce gilt ja als abgehoben und schwierig. Ich habe immer betont: So schlimm ist es denn doch nicht. Vorausgesetzt ist ein relativ gutes Empfinden für Sprache, das ich mir zutraue. Damit kommt man schon ziemlich weit. Es faszinierte mich, was Joyce mit der Sprache anstellen kann, und so bin ich drangeblieben.

JCL | Wie alt waren Sie, als Sie das erste Joyce-Buch gelesen haben?
FS | Das erste Buch von Joyce waren wohl die Dubliners-Geschichten. Ich habe es aufgrund der Schilderungen meines ehemaligen Professors Heinrich Straumann gelesen. Er hatte Joyce, als er nach Zürich kam, 1940, als Letzter kurz vor seinem Tod noch interviewt. Erst in meinem Austauschjahr in England nahm ich mir diesen Ulysses vor, das bekanntermaßen unzugängliche Buch. Dabei wollte ich auch mein Englisch testen. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich damals überhaupt davon mitgekriegt habe, denn Lesehilfen gab es noch nicht. Aber angezogen war ich bestimmt. Ich bin sogar über ein Wochenende von London nach Dublin gefahren und einen Tag von morgens bis abends in Dublin herumgestreift und habe das Haus von Bloom in der Eccles Street gefunden. – Als ich zurückkam, habe ich weitergemacht, bin dann auch sehr bald in Finnegans Wake eingestiegen. Dann hat allerdings das Leben zugeschlagen. Ich habe geheiratet und musste einen Beruf ausüben – mein Studium habe ich nie abgeschlossen. Ich war Korrektor in einer Druckerei, eine ziemlich langweilige Tätigkeit. Doch nach Feierabend blieb mir Zeit für mich selbst übrig. Das Hobby hat mir über schwierige Zeiten hinweggeholfen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

JCL | Meinen Sie damit die Joyce-Lektüre?
FS | Ja. Sie bot eine Ablenkung. Im praktischen Leben bin ich nie erfolgreich gewesen, aber ich konnte mich in etwas vertiefen. Ich war damals noch mehr auf Finnegans Wake ausgerichtet, hatte darin auch ein paar Beobachtungen gemacht. Mein erster Beitrag kam zustande, als wieder einmal eine Abstimmung über das Frauenstimmrecht stattfand, das die Schweiz ja noch nicht hatte. Ich erinnerte mich an eine ganz hübsche Stelle in Finnegans Wake genau darüber und habe sie in einer Zeitung kommentiert untergebracht.* Es folgten bald noch mehr Glossen dieser Art, vor allem in der Neuen Zürcher Zeitung. Damit wurde ich zu jemand, der sich bei Joyce auszukennen schien.

JCL | Und Sie sind mit den Jahren ein wahrer Joyce-Er­forscher geworden.
FS | In der Forschung, wo ich mich eifrig umsah, war über Finnegans Wake nicht viel geleistet worden, aber ich stieß dann auf einen James Atherton in Wigan, dessen Aufsätze ich lesen wollte. Mein Brief fand ihn, und in
seiner Antwort schlug er mir vor, Schweizer Anspielungen in Finnegans Wake zusammenzustellen. Ohne ihn wäre ich vielleicht nie darauf gekommen, selbst aktiv Forschung zu betreiben. So bin ich mit anderen in Verbindung gekommen. Denn wer auf etwas abfährt, findet immer Gleichgesinnte. Es entstand bald eine kleine Gruppe von vielleicht sechs Personen, die sich mit Glossen und kleinen Einsichten brieflich austauschten.
Ich habe dann meinem Freund Clive Hart in England eine Art Bulletin zum Verschicken vorgeschlagen. Das wurde bald als A Wake Newslitter umgesetzt und am Anfang noch vervielfältigt an uns bekannte Joyceaner verschickt. Auf diese Weise war ich eigen­artigerweise als Nicht-Akademiker bereits Mitherausgeber einer kleinen Zeitschrift.

JCL | Wie ging es weiter mit Ihrer «Wissenschaftskarriere»?
FS | Eine Folge war, dass ein junger Professor in Amerika, der ein James Joyce Quarterly herausgeben wollte, Verbindung aufnahm, sodass ich von Anfang an auch bei diesem neuen James Joyce Quarterly dabei war. Das führte zu einer Reihe von Publikationen, was besonders Akademiker in Amerika beeindruckt haben musste und wohl zur Annahme ver­leitete, ich – ein Außenseiter – stände mitten im akademischen Betrieb. Im Grunde bin ich immer Amateur geblieben. Der ist nicht an interne Spielregeln gebunden, sondern kann sich unbeschwert auf das ihm Wichtige konzentrieren und Überflüssiges weglassen.
Erst viel später habe ich gemerkt – man kennt ja seine eigenen Motive kaum ?, dass ich eigentlich immer die Freude der Leser anregen will. Was mir Spaß gemacht hat, soll auch anderen Spaß bereiten. Dazu kam, dass Zürich – mit Flughafen und mitten in Europa gelegen – eine ideale Joyce-Stadt ist, die von vielen Akademikern besonders aus Amerika besucht wurde. Einmal kam der Herausgeber des James Joyce Quarterly zu Besuch, und wir stellten fest, dass wir beide zur selben Zeit nächstes Jahr um den Bloomsday herum in Dublin sein würden. Und so kamen wir zu später Stunde auf die Idee, eine Tagung in Dublin ins Leben zu rufen – ein Joyce Symposium. Das haben wir großspurig angekündigt, und tatsächlich fanden sich im Juni 1967 über 80 Leute zum ersten Anlass zusammen. Für die Einheimischen in Dublin waren wir bestenfalls Freaks, die großes Aufheben um diesen Joyce machten, der erst viel später massiv vom Tourismus ausgewertet wurde. Uns selber gefiel es so gut, dass wir beschlossen, das Symposium alle zwei Jahre zu wiederholen. So wurde es zur Institution. In diesem Juni wird das 26. Symposium in Antwerpen wiederum etwa 200 bis 300 Forscher, Akademiker und Liebhaberinnen zusammenbringen.

JCL | Parallel dazu hatten Sie aber immer noch Ihren Brotberuf als Korrektor …
FS | … ja, es war zwar öde, aber ich habe mich einfach nicht getraut, mich beruflich zu verbessern. Dann gab es noch diese deutschen Joyce-Übersetzungen von Georg Goyert, und ich habe mich recht früh mit der Übersetzbarkeit befasst. Als der Suhrkamp Verlag die Joyce-Rechte übernahm, plante er mit Klaus Reichert als Herausgeber die Frankfurter Gesamtausgabe. Mir kam ein Innenlektorat zu, die Koordination und die Durchsicht aller Übersetzungen. Hans Wollschläger wurde mit dem Ulysses betraut. So haben wir jahrelang über den Wortlaut korrespondiert (ein umständliches Verfahren über die Post), wobei ich als Zubringer diente. 1975 kam dann der neue deutsche Ulysses heraus und wurde über Nacht zur Übersetzung des Jahrhunderts hochstilisiert. Sie hat große Qualitäten. Über Wollschläger bin ich für eine Weile zum Diogenes Verlag gekommen. Und danach kam vieles in Bewegung: Damals führte ein Schweizer in Irland verschiedene Hotels, der bei einer Auktion die Einrichtung der «Jury’s Bar» in Dublin (im Ulysses erwähnt) kaufte und mit dem Namen «James Joyce» nach
Zürich brachte. Eine Schweizer Bank hat das Ganze übernommen und als «James Joyce Pub» eröffnet, gar nicht weit von der heutigen Stiftung entfernt. Als ich meine Stelle im Verlag verlor, wurde der Schweizer Bank­gesellschaft angetragen, meine ansehnliche Joyce-Bibliothek als Stiftung einzurichten. Das geschah zu einem idealen Zeitpunkt. Heutzutage würde eine Bank ein derartiges Unterfangen kaum auch nur erwägen.

JCL | Das waren noch die Achtzigerjahre?
FS | 1985 gründete die Bank, heute UBS, die James-Joyce-Stiftung. Sie hat uns jahrelang unterstützt. Ein führender Generaldirektor der alten Schule sammelte auf hoher Ebene Beiträge, sodass wir mit einem bescheidenen Kapital recht gut leben konnten, bis hin zum Bank-Crash von 2008 mit den prekären Folgen. Ein paar Jahre lang ist die Stiftung noch gesichert, die weitere Zukunft ist ungewiss. Leider gehört Fundraising nicht zu meinen Stärken.

Evelies Schmidt | Was wird in der Stiftung denn getan?
FS | Wir haben hier mehr Bücher und Unter­lagen, Dokumente und Briefe zu Joyce, als sonst wo zu finden sind. Wir bieten wöchentlich Gruppenlektüren der «schwierigen» Bücher an, Ulysses und Finnegans Wake, zurzeit vier, als unentgeltlichen Dienst an der Allgemeinheit. Zürich hat damit vermutlich den höchsten Prozentsatz von Einwohnern, die Ulysses wirklich gelesen haben. Dazu organisieren wir Vorträge und vergeben Stipendien, sodass Studenten ein oder zwei Monate unter idealen Umständen über Joyce arbeiten können. Über die Jahre hatten wir schon achtzig Studenten und Forscherinnen aus der ganzen Welt.
So vieles ist eigentlich von selbst entstanden – und oft nicht durch eigene Planung. Darum habe ich mich auch immer dagegen verwahrt, mich Joyce «gewidmet» zu haben. Gewidmet wurde überhaupt nichts, der Ausgang war einfach eine willkommene Beschäftigung und Ablenkung, die nun zum Glück ihre Früchte gebracht hat.

ES | Sie sagen, es war eine Ablenkung, aber offensichtlich war es auch eine Freude. Wo kommt die Freude her? Oder, was für ein Leser muss man sein, um diese Freude zu entwickeln? Es ist ja ein sehr anregender,
offener Prozess, Joyce zu lesen.
FS | Offenbar hatte ich eine (aber lediglich passive) Affinität zu Joyce. Das machte mir Freude. Ich habe mich immer mit der Sprache beschäftigt, war immer fasziniert von dem, was man mit der Sprache anstellen kann. Da war Joyce natürlich – ich gebrauche sonst keine Superlative – auf einsamer Höhe. Und weil Sie so fragen: Kultur ist vielleicht ein bisschen für die, die es im Leben nicht recht hinkriegen. Das würde auf mich ziemlich zutreffen. Dazu kommt: Ich habe plötzlich gemerkt, dass man das, was man so für sich in einer Klause tut, auch weitergeben kann. Es geht mir um den Zugang. Die Tür zu Joyce steht offen. Und ein Versuch, wie bei mir, könnte sich lohnen.