«Geliebte, lass uns immer schöner werden», schrieb der gerade achtunddreißig Jahre alt gewordene Dichter Christian Morgenstern am 15. Mai 1909 an Margareta Gosebruch von Liechtenstern, die er ein
Jahr später, am 7. März 1910, heiratete. «Noch haben wir viel, viel, viel umzuformen, auszustoßen, zu entwickeln. Noch fangen wir erst an, wenn auch auf gutem Grund», fuhr er im gleichen Brief fort. Keine sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung in Bad Dreikirchen bei Meran im August 1908 starb Christian Morgenstern am frühen Morgen des 31. März 1914. Am 6. Mai wäre er gerade dreiundvierzig Jahre alt geworden.
Was wird aus all den Wünschen, Hoffnungen und Plänen eines Paares, wenn einer von beiden viel früher als erwartet aus dem Leben auf dieser Erde scheidet? Die angedachten gemeinsamen Reisen können nicht mehr unternommen werden, die besinnlichen Tage des gemeinsamen Alterns sind nicht mehr möglich – nicht wie gedacht zumindest, und oft genug gar nicht für das bewusste Leben. Was wird aber dann aus dem «viel, viel, viel», das «umzuformen, auszustoßen, zu entwickeln» geahnt wurde? Verschwindet es?
Es war aber doch noch gar nicht. Es wurde nur gefühlt, geahnt, erwartet. Es war aber oft das Wirkende und Wirksame im Leben. Nicht das, was ist, ist das eigentlich Wirkliche, sondern das, was werden will. Alle nicht erfüllten Wünsche und Hoffnungen, alle nicht ausgeführten Pläne, bleiben Keime des Willens. Es werden Keime künftiger Lebensgestaltungen. Und überall dort, wo etwas von diesen Keimen in Erscheinung tritt, ist es schön!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr
Jean-Claude Lin