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Tonke Dragt

Ein Liebhaberobjekt

Nr 133 | Januar 2011

Zum 80. Geburtstag von Tonke Dragt

I. Türen

Weit von hier, ganz nah bei uns, liegt die Januarische Botschaft, verborgen in einem riesigen Gelände, in einem endlos großen Haus, das gewachsen und nicht gebaut ist. Dort hat man Meere von Zeit, und jeder ist willkommen: Reisender oder Hausmaus, zufällig Vorüber­gehender oder Pilger mit einem Ziel. Dort ist Platz für welchen Landstreicher, Vagabunden & Verirrten auch immer, eine Stätte für jeden Fremdling, Flüchtling, Muggeling, Alien, Einwanderer, Asylsucher, Weggelaufenen, Wanderer, für jede Streunekatze oder … einfach für dich & mich. – Und wo ist die Januarische Botschaft?
Auf der anderen Seite der Tür.
Welcher Tür?
Jeder Tür! Wenn sie nur echt und stabil und hart ist. Am besten aus Holz. Solide. Massiv. Und geschlossen. Niemand weiß, was auf der anderen Seite einer geschlossenen Tür ist. Auch wenn du meinst, du wüsstest es, völlig sicher kannst du dir dessen nie sein. Du weißt es erst wirklich, wenn du die Tür aufgemacht hast. Jede Tür kann unerwartet Zugang in eine neue Welt gewähren, die entdeckt werden will. Wie die Januarische Botschaft. Welche Tür es sein wird und wann es geschehen wird, weiß kein Mensch im Voraus.
Es gibt kaum etwas Geheimnisvolleres als eine geschlossene Tür. Das wussten die Menschen früher auch schon. Vor zweitausend und mehr Jahren brachten die Römer drei Türgöttern Opfer dar: einem Gott der Tür selber, einem Gott der Angeln & Scharniere und einem dritten, dem Gott der Schwelle. Und wenn heute eine Tür aufgeht, kann man immer noch im Nu auf der anderen Seite der Schwelle sein. Aber man kann ebenso gut einen Augenblick zaudern und schauen …
Es gab auch einen Gott der Tür als Ganzes: eine große Tür, eine hohe Tür; es konnte sogar eine doppelte Tür sein. Das war Janus, der zwei Gesichter hatte. Das eine Gesicht schaute zurück in die Vergangenheit, das andere blickte voraus in die Zukunft. Das Heute ist also
dieser eine Schritt, die Schwelle …
In der Bibliothek der Januarischen Botschaft steht eine Marmorstatue des Janus; in seinen Händen hält er die Schlüssel aller dortigen Türen. (Außer den Schlüsseln, die gerade ausgeliehen sind und irgendwo anders herumfliegen.)
Jede Tür hat eine andere Seite. Auch die Katzenklappe. Vergiss vor allem die Katzenklappe nicht! Dieses Pendeltürchen hat sich Isaac Newton, der große Mathematiker & Physiker, Philosoph & Astronom ausgedacht, der die Schwerkraft studierte und uns den Weg ins Sonnensystem gezeigt hat. Ohne seine Gesetze und Formeln hätten wir nie auf dem Mond landen und Raumsonden zu anderen Planeten senden können.
Im Jahr 1666 fertigte Newton die erste Katzenklappe an, oder, um genau zu sein, er bastelte zwei: die eine für seine große Katze und noch eine von bescheidenerem Format für sein kleines Kätzchen. Als ein Besucher zu behaupten wagte, die große Katzentür hätte doch bestimmt allein schon ausgereicht, antwortete Newton zornig, dass das scheue
kleine Kätzchen sich nicht zurückgesetzt fühlen dürfe und dass es sehr glücklich sei mit einem Türchen für sich allein.
Katzen, sagt man, finden immer wieder den Weg zu ihrem Haus – aber das stimmt nicht ganz. Manchmal gehen sie verloren, kommen nie wieder zurück. Diese Katzen könnten eines Tages durchaus in der Januarischen Botschaft zu finden sein, wo man Meere von Zeit hat. Katzen haben neun Leben, und das ist viel Zeit, auch wenn es keine Meere sind. Sie fühlen sich dort also zu Hause. – Zu Hause in der Januarischen Botschaft? Was ist das für eine Botschaft? Was bedeutet «Januarisch»? Welches Land gehört dazu?
Hab ich jemals ein Land erwähnt? Nein. Ich habe etwas von einer anderen Welt erzählt …

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