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Benjamin J. Myers

Blut Alchemie

Nr 135 | März 2011

gelesen von Simone Lambert

Die erlösende Gestalt im dritten Teil der auf sechs Bände angelegten Romanserie ist der irre Boris. Wie pingelig und zugleich gelassen der einstige Rockstar mit Kekskrümeln auf seinem makellosen Teppichboden umgeht, wirkt angesichts der erbarmungslosen Jagd auf die Bad Tuesdays ebenso skurril wie souverän. Der irre Boris, der sich mit seinem Vermögen ein komfortables Leben geschaffen hat, ohne bürgerlich geworden zu sein: warmherzig, humorvoll und treu steht er hinter Chess, deren Großmutter er einst geliebt hat.
Im Kampf gegen die Verbogene Symmetrie gehen die Tuesday-Geschwister inzwischen getrennte Wege. Der Erzähler folgt vor allem Chess, die nach ihrer abrupten Rückkehr vom Planeten Surapoor um fast drei Jahre gealtert ist. Die nun knapp Vierzehnjährige will ihre Brüder wiederfinden und sehnt sich danach, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften. Sie setzt sich vom Komitee ab.
Auf sich allein gestellt, entkommt sie ihren Verfolgern mit Geistes­gegenwart, Kampfkraft und boshaften Tricks. Myers schildert atemberaubende Kampfszenen klar und detailliert; als schier endlose Bewegung entwickeln sie eine eigene Ästhetik, die subtile Prozesse und wechselnde Kräfteverhältnisse abbildet. Chess, ein Straßenkind, aufgewachsen in einer extrem benachteiligten Situation, unterdrückt von den Brüdern, kennt Hunger, Not und Verfolgung; nun gewinnt sie Macht über ihr Leben. Ihre wachsenden Fähigkeiten halten aber nicht unbedingt Schritt mit ihrer charakterlichen Reife. Erst langsam entwickelt Chess Vertrauen - und findet dabei Schutz, Geborgenheit und Freundschaft: bei Boris, bei Anna, deren Bruder ermordet wurde, und auch auf die Solidarität der Kanalratten, wie die obdachlosen Kinder am Hafen genannt werden, kann sie rechnen. Selbst die Unterwelt der Stadt unterstützt Chess’ Kampf gegen die Symmetrie. Dennoch bleibt sie eine Einzelgängerin, denn die Motive der Helfer sind uneindeutig.
Myers schildert in seinem kühnen Buch, das Elemente von Fantasy und Science Fiction mit einem Entwicklungsroman verknüpft, eine futuristische Technologie, die Chess’ Fähigkeiten erklären soll. Sie sei ein Synth, wie ihr Lemuel Sprazkin erklärt, eine Art Homunkulus, und ihr Blut von spezieller Beschaffenheit. Ihre außergewöhnliche Ausdauer und Kraft, ihre Intelligenz, aber auch die wachsende Sicherheit, mit der sie zwischen den Dimensionen wechselt, deuten eine spirituelle Komponente an, die ihre besondere Rolle im Weltenplan erklärt.
Myers ist ein begnadeter Erzähler, denn seine mitunter bizarren Figuren haben einen lebensnahen und verständlichen Kern und verwurzeln sie damit fest in der Realität. Konflikte wie Drogen, Korruption und Grausamkeit, die die Ordnung der menschlichen Welt zerstören, werden in faszinierende Bilder gefasst. Chess’ Odyssee durch die Stadt, stets bedroht von Vertretern der Symmetrie, zeigt diesen von Menschen geschaffenen Ort durchaus realitätsnah als kalt, unwirtlich und von Klassengrenzen zerschnitten. Und immer, wenn die Fantastik der Geschichte überbordend erscheint, konterkariert der Autor die zwielichtigen Gestalten mit einem so menschlich-sympathischen Wesen wie dem irren Boris. Krümel inklusive. Die Fortsetzung dieser spannenden Geschichte kann man kaum erwarten.