Titelbild Hochformat

Pim van Lommel

Nahtoderlebnisse als Thema

Nr 135 | März 2011

Nahtoderlebnisse sind Erfahrungen, die keineswegs erst in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren aufgetreten sind. Seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts allerdings sind die Schilderungen solcher Erfahrungen häufiger geworden, was dazu führte, dass sich auch die Forschung mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt hat. Dementsprechend sind zahlreiche Erlebnis- und Forschungsberichte veröffentlicht worden. Eine Nahtoderfahrung allerdings als literarisches Thema?
In Selma Lagerlöfs 1912 erschienenen Erzählung Der Fuhrmann des Todes werden gleich zwei Nahtoderlebnisse beschrieben. Die Krankenschwester Edith erlebt auf dem Sterbebett die «Begegnung» mit der Frau des notorischen Trinkers David Holm in einer Erfahrung, die sie außerhalb ihres Körpers macht. Im sechsten Kapitel erzählt sie dem Fuhrmann, dass sie in der Wohnung der Ehefrau gewesen sei, obwohl sie doch den ganzen Tag lang krank im Bett lag. «Niemand wendete sich nach mir um, als ich hereinkam …» Bald nach dieser Begebenheit stirbt Edith.
Die zweite und bedeutsamere Nahtoderfahrung ist die des moralisch verdorbenen David Holm, der in der Literatur zu Lagerlöfs Erzählung häufig als «die Personifizierung des Bösen» dargestellt wird. Was Holm erlebt, während er in der Silvesternacht dem Tod geweiht auf dem Kirchhof liegt, ist alles andere als die klassische Darstellung eines Nahtoderlebnisses, wie man es kennt: Er sieht kein helles Licht, hört keine betörende Musik und wird auch sonst mit keinerlei versöhnlichen Bildern beschenkt. Stattdessen begibt er sich auf den finstersten Weg, den man sich vorstellen kann:
Der Fuhrmann weist ihn auf seine Verfehlungen hin, zeigt ihm, wo er sein Leben für sich und die, die ihn lieben, hätte besser, sinnvoller gestalten können, und eröffnet ihm zuletzt eine Möglichkeit, seine Verfehlungen wieder gut zu machen.
Hier werden zwei Varianten dargestellt, wie sich ein Leben nach einem Nahtoderlebnis weiter gestalten kann. Studien haben gezeigt, dass viele Patienten nach Nahtoderlebnissen einen völlig ver­änderten Zugang zum eigenen Leben haben können. Bei einigen zeigt sich, dass sie keinerlei Angst mehr vor dem Tod haben und den Zeitpunkt wählen können, wann sie gehen möchten. Dies ist bei Edith der Fall. Ein solcher Mensch hat ein gelockertes Verhältnis zu seinem Körper und kann ihn jederzeit verlassen. Tatsächlich habe ich beobachten können, dass der Tod bei diesen Menschen häufig in
den ersten dreißig Tagen auftrat, nachdem sie die Nahtoderfahrung gemacht hatten.
Anders ist es bei David Holm. Für ihn werden die Bilder, die der Fuhrmann ihm zeigt, zu einem Impuls, sein Leben neu zu be­ginnen. Ein Mensch, der sich in einem «gelockerten Ver­hältnis» zwischen dem Diesseits und dem Jenseits be­funden hat, ist in der Lage, sein Leben mit anderen Augen zu sehen und Konsequenzen aus dem zu ziehen, was ihm der Einblick aus einer anderen Perspektive ermöglicht.
Mit der Darstellung dessen, was Selma Lagerlöf ihre Figuren Edith und David Holm erleben lässt, war sie ihrer Zeit weit voraus. Ohne auf irgendwelche Studien zurückgreifen zu können, hatte sie ein Wissen davon, in welcher Weise solche Erlebnisse sich auf das Leben danach auswirken können.