Frank Berger

Wenn die Vorstellungen nicht mitwachsen

Nr 136 | April 2011

Gelegentlich ertappe ich mich dabei, dass ich beim Lesen von Wohnungsanzeigen die Preise im Stillen noch immer mit dem jener geräumigen und modernen Zweizimmerwohnung in wunderschöner Lage vergleiche, die ich im Jahr 1977 für DM 350,- anmieten konnte. Auch weiß ich von vielen Bekannten, dass sie noch immer insgeheim die Europreise in D-Mark-Preise umrechnen.
Fast jeder kennt wohl solche konservierten Vergangenheits-Maßstäbe, die herausgeholt werden, wenn es darum geht, den Wert einer Sache zu ermitteln, die jetzt, in der Gegenwart, stattfindet.
Noch ein Schritt weiter, und wir beginnen uns zurückzusehnen nach den guten alten Dingen, der guten alten Zeit, als alles billiger, überschaubarer, authentischer, solider usw. war. Ganze Branchen leben gut von Nostalgieartikeln, seien es Autos, Schallplatten oder handgeformte Dachziegel aus Südfrankreich …
All das ist menschlich und verzeihlich. Dennoch bedeutet so etwas auch, dass irgendwo unsere Vorstellungen nicht mitgewachsen sind. Die Welt hat sich verändert, und wir sind irgendwo nicht mitgekommen. (Möglicherweise haben wir uns aber auch ganz bewusst abgekoppelt. Denn nicht alles, was sich ändert, muss unbedingt begrüßt werden.)
Wie dem auch sei: Wer mit Maßstäben der Vergangenheit misst, wird möglicherweise den Ruf der Zukunft überhören – und somit der Gegenwart nicht gerecht werden. Eine Menschheit, die zu sehr aus der bloßen Fortschreibung und Ausbeutung des Gewesenen lebt, muss irgendwann in den selbstgeschaffenen Sackgassen steckenbleiben, weil ihr die Zukunftsperspektive fehlt.
Hier kommt mir eines der geistlichen Lieder von Novalis in den Sinn, jenes Dichters, dessen Denken ständig um die Frage kreiste, von woher der Mensch Erneuerungskräfte beziehen kann, die ihn vor der Erstarrung bewahren. In dem genannten Lied, das die Tatsache der Auferstehung besingt, spricht er davon, es könne «zu jeder guten Tat / Ein jeder frischer glüh’n. / Denn herrlich wird ihm diese Saat / In schönern Fluren blühn.»
Ostern heißt also: Neu zu wachsen und zu blühen beginnen – aus der Zukunft heraus. Dann wird jeder Tag, um noch einmal Novalis zu zitieren, ein «Weltverjüngungs-Fest».

Aus Stuttgart grüßt Sie herzlich

Frank Berger