Frank Berger

Ende der Eiszeit

Nr 138 | Juni 2011

Vor zwei Jahren fragte mich einer unserer Autoren, wie ich denn konkret die nächste Zukunft einschätzte. Solche Fragen haben einen großen Vorzug: Was man auch sagt – irgendetwas davon tritt in irgendeiner Form immer ein.
Meine Antwort war damals recht pessimistisch und enttäuschte meinen Gesprächspartner. Er hatte erwartet, dass ich seine Sicht der Dinge teilte: Wir befänden uns kurz vor gewaltigen gesellschaft­lichen Umbrüchen und Durchbrüchen, die Menschen würden zunehmend aufwachen und ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen. Ich dagegen wies auf die sinkende Popularität der «Grünen» hin, die großen Aufbruchbewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre seien verebbt, auch Obama werde rasch an seine Grenzen gelangen, die junge Generation suche heute eher die bürgerlichen Sicherheiten als das Experiment und so weiter – kurzum: Es sei nicht die Zeit für kulturelle Revolutionen.
So kann man sich täuschen! Innerhalb weniger Jahre haben sich überall in der Welt Impulse durchgesetzt, die mit unaufhaltsamer Macht erstarrte, über Jahrzehnte gewachsene Strukturen aufbrachen und wegfegten. Regierungen änderten unter dem Druck solcher Volksbewegungen innerhalb weniger Tage ihren Kurs oder traten ab. Überzeugungen und knallharte Lobby-Bollwerke schmolzen dahin wie Schnee an der Sonne. Aufgebrachte Bürger bringen Technokraten und Besserwisser zum Schwitzen.
Auffallend: Bei all dem ist Wärme und Feuer im Spiel. Nicht nur im menschlich-seelischen Bereich, sogar die Natur mobilisiert durch Klimawandel und Vulkanismus ihr verborgenes Wärmepotenzial. Wenn so viel Feuer frei wird, geht alles sehr schnell. Selbst das, was der Arzt Matthias Girke in diesem Heft als die «weiteste Wegstrecke auf diesem Planeten» bezeichnet – der mühsame Weg vom theoretischen Wissen bis zur konkreten Tat – wird plötzlich in Rekordzeit bewältigt.
«Flamme bin ich sicherlich», so endet Friedrich Nietzsche sein Gedicht Ecce homo und definiert so den Kern des Menschen als ein aktives, alles verwandelndes Wärmewesen. Lassen wir uns von dieser Kraft der Wärme, die Erstarrtes in Bewegung bringt, befeuern, werden sich auch gesellschaftliche Eiszeiten (die unausweichlich eintreten müssen) überstehen lassen.

Mit besten Sommergrüßen aus Stuttgart

Frank Berger