Ralf Lilienthal

Der Chor der Hoffnung

Nr 138 | Juni 2011

Von der Straße auf die Bühne

Sonntagvormittag in der evangelischen Stadtkirche von Roten­burg an der Wümme. Ein feierlicher, von Musik getragener Taufgottesdienst. Schon bei den ersten Tönen hält die Gemeinde den Atem an. Hinter ihr auf der Orgelempore, begleitet von der Königin der Instrumente, schwillt das Stakkato des Orff’schen O Fortuna an: … sem-per cre-scis … aut de-cre-sis … vi-ta de-tes-ta-bi-lis … Ein jahrhundertealtes Poem mit einem zeitlosen Thema: die Veränderlichkeit des Glücks, das uns Menschen «bald schindet und bald verwöhnt», vom Komponisten mit einem trotzig-aufbegehrenden, befeuernden Rhythmus unterlegt.
Als der Chor die Empore verlässt und sich im Altarraum aufstellt, gehen dem unvorbereiteten Betrachter die Augen über. Denn dort vor ihm stehen nicht etwa Sängerinnen und Sänger, die sich in Kleidung und Verhalten um die chortypische, «festliche Neutralität» eines Konzerts bemühen. Stattdessen: Extreme! Ein bunt zu­sammengewürfelter Haufen von «Individualisten». Scheue Gesichter und herausfordernde Visagen. Angespannt konzentrierte Mienen und ununterbrochen umherschweifende Blicke. Zufallsbunte Kleidung und das faszinierende Schwarz von einem halben Dutzend junger Gothic-Anhänger.
Nein, es ist kein gewöhnlicher Chor, der jetzt da vorne voller Inbrunst Leonhard Cohens Hallelujah singt, der «Straßen- ­chor Berlin». Und es lohnt sich auch genau hinzuhören, was die etwa fünfzig – ehemalig oder noch immer – Obdachlosen, Junkies, Hartz IV-Empfänger, Alkoholiker, Knackis und ihre «bürgerlich-normalen» Mit-Sänger dort oben singen! …. and even though it all went wrong, I’ll stand before the Lord of Song, with nothing on my tongue but Hallelujah … «Und auch wenn alles schief gelaufen ist, stehe ich vor Gott des Liedes mit nichts auf meiner Zunge als Hallelujah …»

Schief gelaufen? Kann man wohl so sagen, wenn man – wie in einer Nahblende – einige der zerfurchten oder blassen Gesichter fokussiert. Bürgerliche Biographien spiegeln sich nicht darin, zumindest keine mit einem vordergründigen Happy-End. Ge­sichter und darin eingegrabene Schicksale – die, weil sie etwas so Schönes und Anrührendes hervorbringen, den Musikfreund irritieren und zum Nachdenken veranlassen. Wie sind diese Menschen dort hin gekommen? Was hat sie dazu gebracht, sich in einem scheinbar fernen gesellschaftlichen Biotop so überzeugend einzufinden? Besser gesagt: Wer hat sie dazu gebracht?
Stefan Schmidt! Fünfundvierzigjähriger Konzertpianist, Meister-Lehrer, Kammerchor-Leiter. Ein musikalischer Vollprofi, der schon als fünfjähriger Parsifalzuhörer von dem Wissen überwältigt wurde, dass er «ein Leben mit solchen Tönen lieben und diese Welt entdecken würde. » Was er dann, gefördert von seinem klavierspielenden und dirigierenden Vater, auch bedingungslos getan hat. Schon der hochbegabte Elfjährige interpretierte auf dem Konzert­podium Mozart und machte Erfahrungen, auf die er später als Lehrer an der Londoner Yehudi-Menuhin-School für Hochbegabte zurückgreifen konnte. Mit (s)einem Wort: «Ich war ein ‹klassischer› Snob, habe Musik ausschließlich für und mit Leuten gemacht, die es sich leisten konnten. »
Der Sinneswandel des musikalischen Snobs wurde durch einen Schicksalsschlag eingeleitet. Eine lebensgefährliche Er­krankung zwang Stefan Schmidt zur jahrelangen Konzertpause. «Ich habe nur noch unterrichten können. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, denn ich habe begriffen, dass man mit Musik auch etwas anderes machen kann, als ich bis dahin dachte.»
Inzwischen wohnte er in Berlin, einer Stadt, in der über zehntausend Menschen auf der Straße leben. Menschen, die ihm «früher gar nicht aufgefallen wären.» Dann gab es einen Initial­moment in der U-Bahn: Ein Teenager, der, obwohl vollkommen betrunken, mit einer wunderschönen Stimme sang. «Ich dachte, man muss doch etwas anderes machen können, als dem jetzt einen Euro zu geben.» Seine Idee: Ein Straßenkinderchor!
Dann gab eines das andere. Die UFA hörte von seiner Projekt-Idee, bot eine auf drei Monate angelegte Filmdokumentation an und gewann das ZDF als künftigen Ausstrahlungsplatz für eine Serie von 8 x 45 Minuten (ZDF-neo). Zum Casting des künf­tigen, sich schließlich aus erwachsenen Sängern rekrutierenden «Straßenchors» lud Stefan Schmidt, assistiert von Sozialarbeitern der Treber-Hilfe, selber ein. Am Bahnhof Zoo, auf dem Alexanderplatz, in der Beratungsstelle der Hardenberger und an anderen Brennpunkten.
Schon die erste Probe im Gemeinderaum der Schöneberger Zwölf-Apostel-Gemeinde ließ erahnen, was den Pianisten von nun an erwarten würde. Die Stimmung war chaotisch. Laut. Überdreht. Doch die Musik wirkte bereits da ihr erstes Wunder. «Ich hatte, um Kontakt herzustellen, Only time, von Enya ausgewählt, ein einstimmiges Lied, das praktisch nur aus drei Tönen besteht. Beim Singen wurde es auf einmal ganz still, und ich habe gemerkt: Hoppla, da passiert was.»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Und was da passierte! Fast alle Teilnehmer der ersten Probe kamen wieder. Zweimal, dreimal. Aus der wuselnden Menge
kristallisieren sich Namen und Schicksale heraus. Matze, Nobse und Klaus, drei obdachlose Flaschensammler und Schnorrer. Echte Freunde, die das Leben auf der Platte gemeinsam bewältigen, gemeinsam zu den Proben des Straßenchors erscheinen und dabei mitunter wie begeisterte kleine Jungs aussehen. Bianca, heroinabhängig, hin- und hergeworfen zwischen Verzweiflung und Aggression, um deren Verbleib im Chor sich Chorleiter, Sozialarbeiter und die anderen Sänger am Ende vergeblich bemühen. Mario, Stotterer, Frührentner, obdachlos, der auf den ersten Blick zaghaft wirkt, aber vor nichts Angst zu haben scheint, schon gar nicht vor dem großen Abschlusskonzert mit 1500 Zuhörern im Saal der UDK. Wiebke, arbeits-, aber nicht wohnungslos, die mit ihrer lebensklugen Freundin Cookie, 14 Jahre alt, Ausreißerin, am Alexanderplatz abhängt und als Sängerin und Vertrauensperson zu einer der tragenden Säulen der fragilen Gemeinschaft wird. Lilith, die extra­vagante Frauenkleider trägt, aber bei den Bassstimmen singt und dem Chor einen eigenwilligen Glamour verleiht.
Während der Straßenchor Nenas Wunder gescheh’n zu seiner Hymne kürt, sich über Verdis Gefangenenchor und Westernhagens Lass uns leben streitet, kommt Großes ins Rollen: Heinz Rudolf Kunze übernimmt die Schirmherrschaft des Chores und vermittelt einen CD-Vertrag mit Sony-Ariola (Produktionsbeginn: sieben Wochen nach der ersten Probe!). Ein Auftritt bei der 20-Jahr-Feier des Mauerfalls. Eine Einladung in die Fernsehshow von Carmen Nebel. Während die meisten Sänger weitgehend unbeeindruckt und geradezu gelassen auf das alles zugehen, hat Stefan Schmidt unzählige schlaflose Nächte. «Schaffen wir das? Eine CD ohne gewachsenes Repertoire? Ein komplettes Konzert auf großer Bühne? Zwischendurch bin ich davon ausgegangen, mich fürchterlich zu blamieren. Aber die Fähigkeiten des Chores wuchsen mit seinen Aufgaben. Am Ende war das Konzert dann ein Wahnsinnserfolg!»
Und es war nicht das Ende des Chor-Projekts. «Ich wollt auch nach dem Verschwinden der Fernsehkameras unbedingt weiter machen. Jemanden zu hypen und ihn dann total aufgepeitscht fallen zu lassen ist nicht mein Ding.» Am 9. Januar, drei Wochen nach dem großen Finale, sollte es weitergehen. Mit nur noch einer Probe die Woche, ohne die Unterstützung durch einen Sozial­arbeiter, ohne Stimmtrainer, ohne das vom Sender organisierte großzügige Catering. Würden die Sänger wiederkommen? (Fast) alle kamen sie wieder! Bis heute, über ein Jahr später. Beinahe dreißig der Proben-Pioniere und noch einmal so viele Neuhinzugekommene, darunter auch Locke, Flaschensammler: «Am Anfang war es das Mittagessen! Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, wo ich sonst hingehen sollte. Wenn es ginge, würde ich auch dreimal in der Woche proben!» Floyd, arbeitslos, Solist: «Es gibt in meinem Leben keine Sache die größer ist, als das hier!» Cookie: «Vorher waren wir ein Haufen verrückter Chaoten. Heute sind wir ein Haufen verrückter Chaoten, der zusammengewachsen ist.» Peter, privater Streetworker, Chorsprecher und die «gute Seele des Chors»:
«Es geht immer um den Chor, nicht um einen Einzelnen – er ist das, was uns allen etwas gibt!» Anselm, obdachloser Akademiker: «Die Mission Straßenchor hat deutlich gemacht: Leute, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, brauchen keine Almosen und kein Mitleid, sie brauchen Aufgaben, Vertrauen und Anerkennung.» Christian, evangelischer Pastor in einer psychiatrischen Ein­richtung: «Was zählt, ist Freude an der Musik und die Freund­schaft untereinander.» Dean, Gothic, arbeitslos: «Wir sind sechs Kerle, alle schwarz, alle im Rock. Wenn man mitkriegt, wie gerne wir singen und was wir dabei ausstrahlen – das rückt uns in ganz anderes Licht.»
Und das vorläufige Fazit des Chorleiters? «Sozialarbeiter sehen ihre Leute als Klienten an. Für mich sind es Laiensänger, die
singen wollen. Musik ist wie eine Droge, aber es ist die gesündeste Droge der Welt. Ich freue mich, in diese strahlenden Augen zu blicken und zu sehen, wie die aggressivsten Leute zu Engeln mutieren. Da ist etwas passiert, das man mit Worten nicht be­schreiben kann. Aber man kann die Menschen mit Worten aufmerksam machen: Hört Euch diesen Chor an!»
Die Solisten, mit ihren bisweilen brüchigen, aber dennoch markanten Stimmen. Die durchfühlten Chorpassagen – sanft, lebenslustig, pathetisch. Und vor allem gilt auch: Seht Euch diesen Chor an. Mit welcher Inbrunst und welcher Freude sie singen und dabei – wie der disziplinierteste Kammerchor – ihrem Chor­leiter unbeirrt folgen.
Kein Wunder, dass die Konzertbesucher mit der Fassung ringen und sich reihenweise Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Denn «die Leistungen der Menschen sind bemerkenswerter, wenn man die Beschränkungen betrachtet, unter denen sie sich müh’n» – das wusst schon Thornton Wilder.