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Anthony Read

Die Baker Street Boys

Nr 139 | Juli 2011

gelesen von Simone Lambert

London um die Wende zum 20. Jahrhundert. Sieben elternlose Kids zwischen zehn und vierzehn Jahren leben in den Kellerräumen eines heruntergekommenen Gebäudes in der Baker Street und bestreiten ihren Lebensunterhalt selbst. Die Baker Street Boys, zu denen auch drei Mädchen gehören, sind dem berühmten Detektiv Sherlock Holmes, gewissermaßen ein Nachbar, mitunter bei der Lösung seiner Fälle behilflich – der Schriftsteller Arthur Conan Doyle selbst hatte die Idee zu dieser «Spezialeinheit», die er in seinen Holmes-Romanen beschrieb. Inzwischen verfolgen die Boys selbst die Spuren des Verbrechens, wo sie sie entdecken – zumeist hat der Bösewicht Professor Moriarty die Finger im Spiel – und Holmes, der Genius dieser Geschichten, tritt am Ende als Autorität auf, die die Arbeit der Kinder beglaubigt, würdigt und belobt.
In den drei neuen Bänden der Detektivreihe kommen die Sieben chinesischen Mädchenräubern auf die Schliche, entwirren sie die Hintergründe eines komplizierten Juwelendiebstahls und klären gar einen Mord auf, der im Agentenmilieu spielt – die Problematik kreist um russische Revolutionäre. Die Kriminalfälle führen die Kinder in verschiedene Stadtteile, die zu dieser Zeit noch ver­schiedene Welten darstellten. Limehouse als das erste Londoner Chinesenviertel, Hampstead Heath mit seinen Räubernestern und Vergnügungsstätten oder Hatton Garden als das Zentrum des Diamantenhandels bieten vielfältiges Londoner Lokalkolorit. Der morgendliche Nebel über der Themse während der Fahrt unter der damals neuen Tower Bridge hindurch, das Großmarkttreiben am Covent Garden oder die Stille im Lesesaal des Britischen Museums – Read weiß seine Leser zu fesseln mit kontrastreichen Bildern, die die Identität Londons befördert und gefestigt haben. Die Geschichten fokussieren aber auch die sozialen Verhältnisse der Zeit. Die Alltäglichkeit von Kinderarbeit beispielsweise: in Polly und der Juwelenraub muss sich Polly, ein Mädchen aus kinderreicher Familie, als Hausmädchen bei Mylady verdingen, weil ihre Eltern sie nicht mehr durchbringen können. Und das Schicksal der Kamin­jungen, die, wie schon Dickens in Oliver Twist schilderte,
von innen den Kamin hochklettern mussten, erwähnt Wiggins, der Kopf der Bande, als er sich für seine Untersuchungen in bester Holmes-Manier eine Tarnung als Schornsteinfeger zulegt: man ließ sie hungern, damit sie klein und dünn blieben.
Anthony Read, dessen Krimireihe auf seiner Fernsehserie für Kinder basiert, die bereits in den 1980ern von der BBC ausgestrahlt wurde, legt in seinen unterhaltsamen Geschichten viel Wert auf Atmosphäre und ein authentisches (Sitten-)Bild des British Empire. Virtuos setzt er darüber hinaus Verweise und ironische An­spielungen ein. Die Reihe ist zudem optisch reizvoll gestaltet: eine spannende Szene mit clair obscur-Effekten auf dem Cover, Schattenriss-Vignetten zu Beginn jedes Kapitels und eine historisierende Typografie verbinden moderne Grafik mit jener fernen Zeit, die hier beschrieben wird.
Das Besondere an diesen Detektivgeschichten aber ist die Dar­stellung der jugendlichen Helden, die ihre Fälle aus Empathie und Mitgefühl heraus annehmen und lösen. Diese Wachheit, dieser Respekt und ihre Freundschaftlichkeit sind Klischee und Utopie zugleich: so kann Gemeinschaft sein.

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